Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 167, Heft 10,
Oktober 2025
 
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 30 September 2025  
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«Ein Wildtier in Pflege ist ein Wildtier, das in Gefangenschaft gehalten wird»

Nicole Jegerlehner

SVWZH-Präsident Simon Rüegg geht auf Fragen rund um die Wildtierpflege ein und sagt, was die Fachsektion bezüglich Qualität von Pflegestationen fordert.

Was ist das Spezielle bei der Pflege von Wildtieren?
Simon Rüegg: Ein domestiziertes Tier, selbst wenn es verwildert ist, hat eine Jahrtausende alte gemeinsame Entwicklung mit dem Menschen erlebt. Es ist in Anwesenheit von Menschen ruhig und zeigt auch Schwächen. Ein am Bein verletzter Hund beispielsweise hinkt. Ein Wildtier wird dies möglichst vermeiden. Es versteckt seine Fitnesseinbusse so lange als möglich. Überspitzt gesagt: Wildtiere leben oder sind tot. Man muss wahnsinnig subtile Zeichen registrieren, um zu wissen, ob es einem Wildtier gut geht oder nicht. Eine klinische Untersuchung im bewussten Zustand ist nur sehr eingeschränkt möglich.

In ihrem Positionspapier zur Pflege von Wildtieren definiert die GST-Fachsektion Schweizerische Vereinigung für Wild-, Zoo- und Heimtiermedizin (SVWZH) die Grundlagen für Wildtierpflegestationen. Was ist für Sie die wichtigste Forderung dieses Positionspapiers?
Die nachhaltige Qualitätssicherung. Interventionen sollten nur durchgeführt werden, wenn sie wirksam sind und beim Tier zur vollständigen Rehabilitation führen. Sonst soll das Tier euthanasiert werden. Das bedingt teilweise harte Entscheide. Ein Wildtier in Pflege ist ein Wildtier, das in Gefangenschaft gehalten wird. Das bedeutet einen enormen Stress. Die einzige Rechtfertigung für diesen Stress ist, dass das Tier später wieder vollständig rehabilitiert in die Freiheit entlassen wird.

Es gibt in den Pflegestationen sehr viele engagierte Menschen, die Wildtiere seit Jahren oder Jahrzehnten betreuen, sie gut kennen und einen Sachkundenachweis erworben haben. Warum ist es aus Sicht der SVWZH trotzdem wichtig, dass eine Tierärztin oder ein Tierarzt die Pflegestation betreut?
Es ist in der Tat so, dass Tierpflegerinnen und Tierpfleger durch ihren ständigen Kontakt mit dem Tier unter Umständen subtile Veränderungen besser sehen als Tierärztinnen und Tierärzte. Doch auf der Ebene der Betriebsführung muss auf sachlicher Ebene beurteilt werden, ob ein Tier rehabilitiert ist und der freien Wildbahn übergeben werden kann. Auch für die medizinische Versorgung und die Medikamentenabgabe braucht es Tierärztinnen und Tierärzte. Und es geht uns um die Wissenschaftlichkeit, beispielsweise um ein Monitoring der ausgewilderten Tiere. Nur so können die Reha-Massnahmen verbessert werden, damit die langfristige Überlebensquote steigt.

Benötigen diese Tierärztinnen und Tierärzte eine fachliche Weiterbildung?
Auf jeden Fall. Wir wollen keine empirische Tierpflege, sondern eine fachlich fundierte. Es gibt Hunderte von Arten von Wildtieren – deren Diagnostik und Therapie muss man sich erarbeiten. Seit 1996 gibt es die europäische Organisation der Zoo- und Wildtierärzte (EAZWV) und das Europäische College für Zootiermedizin (ECZM) mit entsprechenden Ausbildungen. Seither hat sich die wissenschaftlich begründete Behandlung von Wildtieren rasant weiterentwickelt und es gibt verschiedenste Weiterbildungen.

Im Positionspapier heisst es, dass «geeignete Tierarztpraxen» Wildtiere pflegen dürfen sollen. Welche Tierarztpraxen sind ungeeignet?
Das Handling von Wildtieren setzt Wissen und Erfahrung voraus. Dazu kommt die Einrichtung der Praxis. Einen Raubvogel beispielsweise, der eine Kollision hatte, muss man an einem Ort unterbringen können, an dem er keine Störung hat. Das geht in einer Aufwachbox neben Haustierpatienten nicht.

Sie betrachten Pflegestationen, die auch Zuchtprogramme betreiben, skeptisch. Wieso?
Das ist ein Interessenskonflikt. Rehabilitation hat nichts mit Zucht zu tun. Zudem ist Zucht, ausser bei bedrohten Arten, irrelevant. Wichtiger als die Zucht bedrohter Arten ist es, ihre Habitate zu erhalten. Wir sollten den natürlichen Populationen jene Ressourcen zur Verfügung stellen, die sie brauchen, um sich zu erholen. Sonst schaffen wir mit einer Zucht nur neue bedrohte Populationen. Biodiversitätsförderung ist ein konsequenter Artenschutz. Das beginnt im Privatgarten. Es ist wichtig, dass wir Wildtiere medizinisch versorgen, weil sie einen inhärenten und gesellschaftlichen Wert haben. Indem wir uns um sie kümmern, bestätigen wir denjenigen, die die Tiere abgeben, dass sie verantwortungsvoll gehandelt haben, und haben so die Gelegenheit, auf die Bedürfnisse der Wildtiere aufmerksam zu machen.
 
Die SVWZH fordert eine Liste aller bewilligten Wildtierpflegestationen sowie der für die Wildtiere verantwortlichen Organe in der Schweiz. Was ist die Idee dahinter?
Heute hat niemand den Überblick über alle Angebote. Wer einen angefahrenen Fuchs findet, geht heute einfach zur nächsten Tierarztpraxis, weil er nicht innert Kürze eine Anlaufstelle findet, wo er das Tier in eine qualitativ hochstehende Pflege geben könnte. Zudem bringt eine solche Liste den darauf aufgeführten Institutionen eine Legitimation.

Seit Februar dürfen Tierärztinnen und Tierärzte eine Erstbehandlung der gemäss Jagdgesetz geschützten Wildtiere vornehmen, ohne zuvor eine Bewilligung einzuholen. Ist dies in Ihrem Sinne?
Grundsätzlich schon. Wir appellieren ausserdem an die Selbstverantwortung der Tierärztinnen und Tierärzte, dass sie fachliches Wissen einholen und die Tiere nach der Erstversorgung zu Spezialistinnen und Spezialisten bringen.

Reicht diese gesetzliche Neuerung aus Ihrer Sicht aus, oder ist eine weitere Vereinheitlichung nötig?
Weil die Kantone zuständig sind, gibt es einen kantonalen Flickenteppich. Deshalb sind die Zuständigkeiten unklar. Wir wissen oft nicht, wer bei welcher Tierart die Entscheidungsgewalt hat. Diese Fragen sind auch nach der Revision der Jagdverordnung weiterhin offen.

Die Erstversorgung von Wildtieren bringt der Tierärzteschaft Kosten – sehen Sie eine Lösung, wie und von wem dies entgolten werden sollte?
Wildtiere sind Eigentum der Kantone. Wir finden, dass der Bund und die Kantone für die Kosten der Wildtierpflege verantwortlich sind. Die Pflege der Wildtiere ist eine gesellschaftliche Aufgabe, und derzeit übernimmt die Tierärzteschaft sie implizit, ohne dafür entschädigt zu werden. Die Kosten für eine fachgerechte Wildtierrehabilitation sind erheblich.

Sollen denn überhaupt alle verletzten Wildtiere gepflegt werden?
Aus fachlich-medizinischer Perspektive pflegen wir jene Wildtiere, die vollständig rehabilitiert werden können. Dazu kommt jedoch eine gesellschaftliche Perspektive: Welche Tierarten pflegen wir? Sollen wir ein Individuum einer invasiven Art wie der Bisamratte pflegen? Haben wir nicht schon mehr als genug Füchse? Die Population der Steinmarder hingegen ist dringend auf eine Rettung angewiesen. Es wäre gut, wenn wir in diesen Fragen eine Einigung und eine Kohärenz über die Kantone hinweg hätten, die als Orientierungshilfe dient. Ein Konzept wäre schön, damit solche Fragen nicht von einzelnen Tierärztinnen und Tierärzten beantwortet und verantwortet werden müssen.

© iStock

Positionspapier zur Pflege von Wildtieren

Die Schweizerische Vereinigung für Wild-, Zoo- und Heimtiermedizin (SVWZH) hat im Jahr 2019 ein Positionspapier zur Pflege von Wildtieren verabschiedet. Die GST-Sektion setzt sich für eine einheitliche, gesamtschweizerische Lösung ein. Das Positionspapier fordert: «Das Ziel der Pflege und tierärztlichen Betreuung eines Wildtieres ist die Wiederauswilderung. Kann sich ein Wildtier nach entsprechender Pflege und Therapie nicht artgerecht verhalten und sich selber ernähren, ist die Euthanasie angezeigt und der Rehabilitation vorzuziehen.» Zudem müsse jede Wildtierstation durch eine Tierärztin oder einen Tierarzt mit entsprechendem Grundwissen betreut werden, und die Medikamentenabgabe an die Station müsse durch eine schriftliche Vereinbarung geregelt sein. Der SVWZH ist wichtig, dass das Pflegepersonal der Wildtierpflegestationen und die betreuenden Tierärztinnen und Tierärzte über eine fundierte Ausbildung verfügen und sich regelmässig weiterbilden, und dass die Kosten für Pflege, Haltung, Fütterung und tierärztliche Betreuung einer Wildtierpflegestation für die Dauer der Bewilligung gedeckt sind. 

Zur Webseite der Schweizerischen Vereinigung für Wild-, Zoo- und Heimtiermedizin

 
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