Fokus
«Ich bin wohl tatsächlich ein verkappter Tierschützer»
Der Jurist Peter V. Kunz von der Universität Bern hat das erste Übersichtswerk zum Schweizer Tierrecht geschrieben. Im 800 Seiten dicken Buch fordert er auch mehr Rechte für Tiere.
Herr Kunz, Sie sind bekannt als pointierter Wirtschaftsrechtler. Warum haben Sie in den letzten vier Jahren Lehrveranstaltungen zum Thema Tierrecht aufgebaut?
Das hat zwei Gründe, einen beruflichen und einen privaten. Beruflich habe ich seit dem Jura-Studium das Gefühl, dass sich das Recht mit Menschen und mit Unternehmen beschäftigt, nicht aber mit Tieren. Und das hat mich immer irritiert. Tiere sind im Recht nur Objekte, und die rechtswissenschaftlichen Fakultäten ignorierten Tiere fast völlig. Und schliesslich, mit etwas über 50 Jahren und als Dekan, wollte ich mich beruflich zusätzlich noch einem neuen Bereich widmen, bei dem eine bedauerliche Lücke besteht, und bei der ich dachte, dass ich das kann.
Und was war der private Grund?
Da bin ich emotional involviert. Ich hatte mein ganzes Leben mit Tieren zu tun. Ich bin Halter von Katzen. Ich bin ein Tierfreund, wenn auch nicht so sehr, dass ich Vegetarier wäre. Und in einer persönlichen Krisensituation vor einigen Jahren habe ich mir gesagt, dass es richtig wäre, wenn ich mich mit Tierrecht beschäftige.
Was war das für eine Krisensituation?
Bei der Scheidung von meiner Frau ging es um die Frage, wem «unsere» Katzen denn nun eigentlich zum Eigentum gehören. Kinder befragt man bei Scheidungen zu ihrer Beziehung zu den Eltern, das Büsi hat nichts zu sagen. Ich habe mich juristisch mit der Frage beschäftigt und erkannt: Das ist spannend und kompliziert.
Warum kompliziert? Tiere gelten rechtlich ja als Sache; werden sie bei einer Scheidung nicht einfach entsprechend verteilt?
Ja, rechtlich gesehen sind Tiere Sachen. Ich sage: eine sogenannte atypische Sache, vor allem bei Heimtieren. Für sie gibt es seit zwanzig Jahren Spezialregelungen im Privatrecht. Heute berücksichtigt man bei einer Scheidung das Tierinteresse: Man schaut, wo die bessere Betreuung gewährleistet ist. Das war vor zwanzig Jahren noch anders. Bei den Heimtieren hat sich einiges getan, nicht jedoch bei den Nutztieren.
Wer hat die Katzen bei Ihrer Scheidung denn erhalten?
Meine Frau hat selbstverständlich in allen Punkten gewonnen (lacht). Ich musste die Tierarztkosten übernehmen. Aber wir haben einige Monate nach der Scheidung wieder geheiratet. Die Katzen gehören nach wie vor meiner Frau.
Sie erzählen von Ihrer emotionalen Verbindung zu Tieren. Sind Sie neben dem Jurist auch ein Tierschützer oder ein Tieraktivist?
Als Wissenschaftler und auch als Buchautor bin ich bewusst objektivistisch und emotionslos. Ich mache auch keine Stallbesetzungen oder so. Ich sage aber, man könnte einige Sachen verbessern; da spricht der Privatmann, der Tiere gern hat. Mit meinen Forderungen nach mehr Rechten für Tiere bin ich wohl tatsächlich ein verkappter Tierschützer. Auch wenn ich nicht wie ein typischer Tierschützer aussehe, da ich mit Anzug und Krawatte auftrete. Tierschützer stossen die Leute mit ihrem Verhalten und ihrem Auftreten oft vor den Kopf. Bei mir hat es die andere Seite schwieriger, Abwehrreflexe gegen mich aufzubauen
Welche Rechte fordern Sie?
Ich würde beispielsweise den Tierschutz auf wirbellose Tiere ausweiten und den sogenannten Lebensschutz einführen. Das tönt nach viel, ist aber in Deutschland und Österreich normal.
Welche Auswirkungen hätte der Lebensschutz?
Die wären wohl geringer als viele befürchten. Es gäbe deswegen keine Strafverfahren, wenn man eine Mücke erschlägt. Aber der Lebensschutz würde präventiv wirken und die Leute sensibilisieren. Unsere Gesellschaften erscheinen mir eher tierunsensibel.
Wer müsste denn für Tierrechte sensibilisiert werden?
Ich bin nicht überzeugt, dass wir Schweizer wirklich sehr tierliebend sind. Das sehen wir auch bei Fragen wie dem Feuerwerk am 1. August oder an Silvester, wenn die Leute böllern und sich nicht darum kümmern, dass die Tiere darunter leiden. Auch akzeptieren wir sogar sehr invasive Tierversuche, sobald es um Medikamente und unsere Eigeninteressen geht.
Und was würde der Lebensschutz für die Nutztierhaltung bedeuten, oder für Wildtiere, die zur Populationskontrolle getötet werden?
Sogar das Recht des Menschen auf Leben ist nicht absolut; es gibt beispielsweise die Tötung in Notwehr. Ein Schlachthof würde durch den Lebensschutz nicht ausgehebelt, aber man würde vertieft über die Art der Tötung sprechen. Eine völlig grundlose Tiertötung sollte nicht möglich sein.
Auf welches Echo stossen Sie mit Ihren Forderungen nach mehr Tierrechten?
Teils überrascht dies, weil ich ja politisch als ein «Bürgerlicher» gelte. Das Thema Tier als Rechtssubjekt ist eine Vision von mir. Ich weiss, dass die Leute in meinem Alter darüber eher den Kopf schütteln. In meinem Rotary-Club wurde ich anfangs dafür belächelt. Aber meine Studierenden nehmen diese Ideen auf. Vielleicht ändert sich ja in dreissig Jahren etwas. Wir müssen die Diskussion jedoch bereits jetzt starten, auch zur Sensibilisierung. Es geht mir nicht um eine strafrechtliche Bedrohung, sondern darum, dass die Leute erkennen, dass beispielsweise nicht zuletzt Heimtiere spezifische Bedürfnisse haben.
Werden wir uns in einigen Jahrzehnten dafür schämen, wie wir heute mit Tieren umgehen?
Ja, das glaube ich tatsächlich. Das heisst aber nicht, dass wir uns bereits heute schämen müssen. Ich habe Mühe, wenn man im Rückblick sehr kritisch mit der Vergangenheit umgeht und sich selbstgerecht gebärdet. Wir werden uns entwickeln müssen in unserer Mensch-Tier-Beziehung. Der Stellenwert von Tieren wird künftig sicher steigen. Aber wir leben in der heutigen Zeit. Eine Veränderung braucht eine Gesellschaft, die dahintersteht: Die Gesellschaft geht voran, das Recht wird folgen. Für die Massentierhaltung müssten wir uns jedoch heute bereits schämen, und uns unsere Nachfahren werden es dann für uns tun.
Was würde es für Tierärztinnen und Tierärzte bedeuten, wenn Tiere mehr Rechte hätten?
Die Tierärzteschaft hat heute eine Standesordnung, also eine Selbstregulierung, die nice to have ist. Ein gesetzlicher Lebensschutz würde eine rechtliche Legitimationsbasis bringen, ohne jedoch den administrativen Aufwand zu erhöhen. Der Lebensschutz, sollte er in Zukunft kommen, wäre für Tierärztinnen und Tierärzte keine Bedrohung.
Sie kritisieren auch, die Veterinärämter kontrollierten das Tierrecht nicht genügend.
Die Veterinärämter machen, was sie können. Von mir aus gesehen werden sie durch die Politik teilweise bewusst klein gehalten. Sie benötigen mehr Personal. Und auch besser ausgebildetes Personal, das über das nötige rechtliche Wissen verfügt.
Ausgewählte juristische Fragen rund um Tiere und die Tierärzteschaft finden Sie hier.
Das Buch
Das Literaturverzeichnis eingerechnet umfasst das neue Buch von Peter V. Kunz über 800 Seiten. Darin dreht sich alles um das Tierrecht. Dabei geht Kunz über die Fragen des Tierschutzrechts hinaus: Er beleuchtet das Tierrecht über das gesamte Rechtssystem hinweg. Das Tierrecht gehört laut Kunz zu Privatrecht, öffentlichem Recht, Strafrecht sowie Wirtschaftsrecht. «Die Tierrechtler können folglich als rechtliche ‹Mehrkämpfer› bezeichnet werden», schreibt Kunz in der Einleitung. Kunz hat mit dem umfangreichen und umfassenden Buch das erste Übersichtswerk zum Schweizer Tierrecht geschrieben. njb
Peter V. Kunz, «Tierrecht der Schweiz»; Helbing Lichtenhahn Verlag, 2023; 792 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-7190-4649-1, 148 Franken