Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 165, Heft 7_8,
Juli 2023
 
Thema Sonderheft Tierwohl / cahier spécial Bien-être animal  
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 04 Juli 2023  
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Fokus

Stressarmes Handling in der Tierarztpraxis

Dr. Marianne Furler, Verhaltenstierärztin STVV

Ein Grundsatz des Schweizer Tierschutzgesetzes lautet, dass «...niemand ­einem Tier ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen (…) darf». Dies gilt auch in Tierarztpraxen.

Die Aufgabe von Tierärztinnen und Tierärzten ist nicht nur das Behandeln von Erkrankungen, sie müssen auch das Versetzen von Patienten in Angst und Stress als relevanten Faktor in Bezug auf das Wohlergehen des von ihnen behandelten Tieres mit einbeziehen. Was früher als Kollateralschaden angesehen wurde, kann heute zum grossen Teil vermindert oder sogar vermieden werden, was von den Tierbesitzerinnen und Tierbesitzern auch zunehmend erwartet wird.

Was sind Stress und Angst?

Doch was versteht man unter Stress und Angst überhaupt? Stress ist eine psychische und/oder physische Reaktion auf interne oder externe Stressoren. Was als stressauslösend empfunden wird, ist individuell unterschiedlich und hängt von der jeweiligen Bewältigungskompetenz ab. Unter internen Stressoren versteht man unerfüllte Grundbedürfnisse – wie Hunger und Durst -, Schmerzen, mangelhafte soziale Sicherheit und so weiter. Externe Stressoren sind zum Beispiel aversive Geräusche oder Gerüche, Bedrohung und angstauslösende Reize.

Furcht/Angst (Fear) bezeichnet einen aversiven emotionalen Zustand als Reaktion auf einen konkreten bedrohlichen Reiz. Die Furcht ist für das Individuum begründet und kann auf ähnliche Situationen übertragen werden. So werden Vorboten des gefürchteten Stimulus selbst zum Stimulus (Antizipation).

Ängstlichkeit (Anxiety) wiederum beschreibt einen generellen Gefühlszustand von Angst oder Erwartung von Gefahr. Auch hier kommt es zur Antizipation.

Stress schon im Wartezimmer

In die Praxis kommen Tiere, von denen die meisten schon im Wartezimmer unter Stress und Angst leiden und nun weiteren aversiven Stimuli ausgesetzt werden wie einem fremden Ort, fremden Menschen, unbekannten Geräuschen und Gerüchen, unangenehmen bis schmerzhaften Manipulationen und Behandlungen und allem voran einem Kontrollverlust.

Diese Erfahrungen können zu unterschiedlich ausgeprägtem kontextbedingten Angstlernen führen und bei den folgenden Besuchen zunehmend verstärkt werden. Laut einer Studie assoziieren rund ein Drittel aller Katzen den Transportkorb negativ nach nur einem einzigen Tierarztbesuch. In einer anderen Studie zeigten mehr als drei Viertel von klinisch gesunden Hunden Angst auf dem Untersuchungstisch. Weniger als die Hälfte betrat die Praxis ruhig und 13 Prozent mussten hineingezerrt oder getragen werden.

Stress kann aggressiv machen

Hunde und Katzen, die im Zustand von Angst und Stress aversiven Stimuli ausgesetzt und durch das Festhalten oder durch Zwangsmassnahmen eines Grossteils ihrer Kontrolle beraubt werden, reagieren mit Erstarren, Fluchtversuchen oder defensiver Aggression – und wenn die Angst in Wut umschlägt, schliesslich mit offensiver Aggression, was sehr gefährlich sein kann.

Die Folgen sind, dass die Tiere zunehmend schlechter untersucht und behandelt werden können und Tierbesitzerinnen und -besitzer den Besuch möglichst hinauszögern. Auch wird das tierärztliche Fachpersonal durch das unkooperative Verhalten der Patienten immer mehr herausgefordert und durch aggressives Verhalten gefährdet.

Stressarmes Handling

Zum Schutz unserer Patienten vor der Verstärkung von Stress und Angst oder der Traumatisierung durch unseren Umgang mit dem Tier («Iatrogenic Behavioural Injury», IBI) wurde das stressarme Handling («Low Stress Handling®», «Fear Free», «Cooperative Care») entwickelt.

Im Prinzip wird der Fokus auf den Patienten und nicht auf die zu erreichenden Ziele – welche Untersuchungen, spezifische Behandlungen – gelegt. Der emotionale Zustand des Patienten wird laufend überwacht und beurteilt und das weitere Vorgehen entsprechend angepasst.

Den Kontrollverlust verringern

Zu den Prinzipien des «Fear Free» gehören eine rücksichtvolle Annäherung, die sanfte Kontrolle, eine
minimale Fixation, um den Kontrollverlust zu verringern, und eine Priorisierung der vorzunehmenden Untersuchungen und Behandlungen: was ist wirklich nötig und auf was kann verzichtet werden? Für Untersuchungen oder Behandlungen, die nicht durchführbar, aber unerlässlich sind, wird das Tier dann beispielsweise sediert oder zuerst einem Medical Training unterzogen.

Das grosszügige Anbieten von Leckerlis gehört dazu – denn einerseits wirkt Fressen beruhigend und andererseits ist das Verweigern von Futter ein Hinweis auf den emotionalen Zustand des Tieres. Die Bedenken, dass durch die Fütterung das Tier in seiner Angst bestätigt wird, sind unbegründet, da dies auf der Ebene von Emotionen geschieht und kein Verhalten belohnt wird. Dies setzt voraus, dass die zwei Ebenen von den tierärztlichen Fachpersonen auch unterschieden werden können.

Alles vorbesprechen

Die Planung der Stressreduktion beginnt am Telefon bei der Terminvereinbarung. Sollte der Hund besser im Auto warten, weil der Aufenthalt im Wartezimmer zu stressig ist? Sollte die Katze prämediziert werden, damit Untersuch und Behandlung überhaupt möglich sind? Oder sollte für die vorgesehene Untersuchung und Behandlung von Anfang an eine Sedation eingeplant werden?

Im Wartezimmer schätzt die TPA den emotionalen Zustand der wartenden Patienten ein, bietet Hunden Leckerlis an oder stellt für Katzen in Transportkörben ohne Sichtschutz ein Tuch zum Abdecken bereit. Es ist wichtig, nicht nur den Besitzer, sondern auch die Patienten freundlich zu begrüssen, da Hunde und vermutlich auch Katzen unfreundliche Menschen meiden.

Die Tierhaltenden einbeziehen

Viele Tierhalterinnen und -halter sind beim Termin selbst nervös und werden durch den freundlichen Umgang mit ihrem Tier ruhiger. Ausserdem tolerieren viele ein empathieloses Handling mit ihrem Tier zunehmend schlechter, andere wiederum staunen, wie ruhig ihr bisher gestresstes und unkooperatives Tier beim schonenden Umgang plötzlich sein kann.

Den Tierhalterinnen und -haltern soll daher das besondere Vorgehen erklärt werden: warum dem Hund oder der Katze verschiedene Leckerlis, Pasten oder sogar Schlagrahm angeboten wird und was es bedeutet, wenn ihr Tier plötzlich nicht mehr frisst. Oder warum auf Untersuchungen verzichtet wird oder diese auf einen neuen Termin verschoben werden müssen.

Viele Besitzer haben manchmal Mühe zu erkennen, dass ihr Hund oder ihre Katze gestresst oder ängstlich ist und darum vielleicht noch einen Moment braucht, um sich zu beruhigen, bevor die Tierärztin oder der Tierarzt mit dem Untersuch beginnen kann.

Selbstverständlich ist eine gute Kommunikation zwischen Tierärztin oder Tierarzt und TPA unerlässlich. Oft sieht oder spürt die TPA besser, wenn sich der emotionale Zustand des Tieres zum Beispiel beim Halten auf dem Untersuchungstisch verändert, als der Tierarzt, der vielleicht gerade mit dem Besitzer spricht.

Die Körpersprache verstehen

Voraussetzungen für das stressarme Handling sind unter anderem die die Fähigkeit zur Empathie mit dem Patienten und das Erkennen des emotionalen Zustands durch Lesen der Körpersprache sowie durch Vertrautheit mit den Prinzipien des Lernverhaltens von Hunden und Katzen.

Eine Katze, die auf dem Untersuchungstisch ohne Fixation angespannt und regungslos liegen bleibt, ist in einer Angststarre – was einem ausserordentlich unangenehmen und belastenden Zustand entspricht. Auch der Hund, der überdreht herumwuselt, alle Personen anspringt und hastig die angebotenen Goodies frisst, ist selten wirklich fröhlich, sondern zeigt Konfliktverhalten, sogenanntes «Flirt / Fiddle about», und ist ebenfalls gestresst.

Fazit

Stressarmes Handling verbessert nicht nur das Wohlergehen des Tieres, sondern hat auch einen positiven Effekt auf deren Begleitpersonen und das tierärztliche Personal. Nicht nur das Tier ist entspannter, sondern auch alle beteiligten Personen. Das Arbeiten mit stressreduzierenden Methoden ist somit nicht nur angenehmer, sondern auch effizienter und sicherer.

Jungkatze bei Eintreffen im Konsultationsraum und wenige Minuten nach freier Exploration des Raumes. (© Marianne Furler)

Links für weiterführende Informationen und Downloads:
stvv.ch
lowstresshandling.com

 
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