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Lentiviren bei Ziege und Schaf – tückische und komplexe Viren
Seit die Schweizer Ziegenpopulation frei von Caprine Arthritis-Encephalitis (CAE) ist, stehen Lentiviren hierzulande nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit, obwohl sie in vielen europäischen Ländern immer noch eine Herausforderung darstellen.
Prof. Dr. med. vet FVH Giuseppe Bertoni, vom IVI und der Universität Bern, gibt eine fachkundige Einschätzung der aktuellen Lage ab.
Die Entwicklung eines Schnelltests zum Nachweis von Antikörpern in der Milch würde effektiv zur Bekämpfung und zur Überwachung dieser Krankheit beitragen. Zu diesem Zweck arbeitet das Institut für Virologie und Immunologie (IVI) in enger Zusammenarbeit mit Polen an einem vom BLV mitfinanzierten EU-Projekt im Rahmen der International coordination of research on infectious animal diseases (ICRAD).
Welche Lentiviren kommen bei Ziegen und Schafen vor?
Ziegen und Schafe werden von den sogenannten Lentiviren der Kleinen Wiederkäuer (Small ruminant lentiviruses, SRLV) befallen. Diese gehören zur Familie der Retroviren und zeichnen sich vor allem durch eine sehr spezielle Replikationsstrategie aus. Man unterscheidet den SRLV-B-Genotyp (caprine arthritis encephalitis virus, CAEV) und den SRLV-A-Genotyp (maedi-visna virus, MVV) sowie seltenere, in der Schweiz nie nachgewiesene Genotypen wie SRLV-C und SRLV-E.
SRLV-B Viren sind am bekanntesten, denn sie verursachen die Caprine Arthritis-Encephalitis, die Krankheit der «dicken Knie», bei Ziegen.
Weshalb ist ihre Replikationsstrategie so besonders?
Lentiviren haben ein RNA-Genom und sind diploide Viren, d. h. jedes Viruspartikel enthält zwei Kopien seines Genoms. Dies begünstigt die Produktion rekombinanter Viren und erhöht so die ohnehin schon beeindruckende Variabilität der Viren. Gerade wegen dieser Variabilität ist das Virus schwer zu bekämpfen. Sobald sie in eine Zelle eingedrungen sind, retrotranskribieren die Viren ihr Genom in DNA und fügen sie in das Genom der Zielzelle ein. In diesem Stadium behandelt die infizierte Zelle dieses Genom so, als ob die viralen Gene Teil ihres eigenen Genoms wären. Der Grad der Virusexpression und -replikation wird also von der infizierten Zelle, oder genauer gesagt von den Transkriptionsfaktoren, die sie exprimiert, bestimmt.
Welche Infektionsstrategie verwenden diese Viren?
Die Lentiviren der Kleinen Wiederkäuer infizieren hauptsächlich Monozyten. Dort ruht das Virus und bleibt vom Immunsystem unerkannt (Strategie des Trojanischen Pferds). Es «erwacht» erst, wenn sich diese Zellen im betroffenen Gewebe zu Makrophagen ausdifferenzieren. Durch diese enge Verbindung mit Makrophagen lassen sich die induzierten Pathologien erklären.
Welche Symptome zeigen sich bei Ziegen?
Eine Infektion mit SRLV-B (CAEV) äussert sich bei Ziegen hauptsächlich durch eine Arthritis, eine Mastitis und in seltenen Fällen bei Jungtieren durch eine Enzephalitis. Der Name der Krankheit, Caprine Arthritis-Encephalitis (CAE), geht auf diese Symptome zurück. Wichtig zu erwähnen ist, dass lediglich ein Drittel der infizierten Tiere klinische Symptome aufweist. SRLV-A verursacht hingegen bisher bei Ziegen in der Schweiz keine klinisch erkennbare Krankheit.
Sind Schafe ähnlich betroffen?
Die Infektion von Schafen mit SRLV-B ist in der Schweiz selten. Schafe können sich hingegen mit SRLV-A infizieren und zeigen Symptome in der Lunge, im Euter und im zentralen Nervensystem (Maedi-Visna, MVV).
Sind Schafe und Ziegen schlussendlich von denselben Lentivirus-Stämmen betroffen?
Ja, aber hierzulande scheinen sich Ziegen öfter mit verschiedenen SRLV-A zu infizieren als Schafe mit SRLV-B. Lange Zeit wurde angenommen, dass CAEV (SRLV-B) bei Ziegen und MVV (SRLV-A) bei Schafen auftrete. Die Sequenzierung und der stetige Anstieg der Virusisolate haben jedoch gezeigt, dass die Artenbarriere, von der wir dachten, sie sei fast unüberwindbar, in Wirklichkeit ein Sieb ist!
Die meisten MVV-Subtypen infizieren Schafe und Ziegen mit der gleichen Effizienz und werden neu als SRLV-A bezeichnet. SRLV-B wiederum, die die klassischen bei Ziegen isolierten Stämme bilden, kommen auch bei Schafen vor, die auf natürliche Weise infiziert werden.
Wie sieht die derzeitige Situation in der Schweiz aus?
Die Schweizer Ziegenpopulation ist seit 2019 CAE-frei, und die Schweiz hat bei der Entwicklung von Programmen zur Ausrottung dieser Krankheit eine Vorreiterrolle eingenommen.
Wie es scheint, ist dieser Sieg vor allem den Züchterinnen und Züchtern zu verdanken, die sich im Kampf gegen die Krankheit stark engagiert haben. Stimmt das?
Das stimmt und ist ein gutes Beispiel für eine Bottom-up-Initiative. Die Zuchtverbände haben die Einführung von Ausrottungsprogrammen selbst vorangetrieben. Ohne ihre Beharrlichkeit und ihr Engagement wäre SRLV-B nie ausgerottet worden.
Wie sieht die Situation in Europa aus?
Die Situation in Europa ist kompliziert, da viele Länder immer noch gegen Lentiviren kämpfen: Es gibt zwar gute regionale Programme, aber die reichen nicht aus, um diese Viren vollständig auszurotten.
Welche Rolle spielt hier das IVI?
Das IVI ist das nationale Referenzlabor für CAE. Es hat diese Funktion vom Institut für Veterinärvirologie (IVV) übernommen, das die Ausrottungsbemühungen wissenschaftlich unterstützt und von Anfang an diagnostische Tests entwickelt hatte. Das IVI arbeitet eng mit dem BLV zusammen, das sich seit Jahren auch an der Finanzierung bestimmter Forschungsprojekte zu SRLV beteiligt. Alle seropositiven Befunde von SRLV müssen vom Diagnostikservice des IVI bestätigt werden. Neben der Diagnostik betreibt das IVI seit Langem auch Forschung im Bereich der Lentiviren.
Ist Ihr aktuelles Forschungsprojekt über das Vorkommen von SRLV-A bei Ziegen bereits zu Ergebnissen gekommen?
Wir haben eine Studie gestartet, um mehrere Herden zu testen, die bei der letzten serologischen Volluntersuchung 2011–2012 im Rahmen der CAE-Überwachung positiv auf SRLV-A getestet wurden. Die ersten Ergebnisse sind sehr vielversprechend: Glücklicherweise haben wir keine Hinweise auf eine SRLV-B-Infektion gefunden. Die einzigen nachgewiesenen Viren waren SRLV-A, und die Ziegen waren klinisch gesund. Die Veröffentlichung der Ergebnisse ist für diesen Sommer geplant.
Sie führen auch ein Projekt zur Entwicklung eines Schnelltests zum Nachweis von Antikörpern in Milch durch. Wo stehen Sie?
Wir nehmen derzeit an einem europäischen Projekt (ICRAD) teil, das von polnischen Tierärztinnen und Tierärzten an der Universität Warschau lanciert wurde. In Polen ist die Situation anders als in der Schweiz. Unsere Kolleginnen und Kollegen stehen am Anfang einer potenziellen Kampagne, um diese Viren unter Kontrolle zu bringen. Angesichts der grossen Fläche Polens und der für die heimische Landwirtschaft verfügbaren Mittel wären serologische Schnelltests für polnische Halterinnen und Halter vorteilhaft, damit sie ihre Herden anhand einiger Tropfen Milch selbst testen können. Am IVI haben wir mehrere polnische SRLV-B-Stämme und SRLV-A-Stämme isoliert. Basierend auf den Sequenzen dieser Viren haben wir rekombinante Proteine und synthetische Peptide entworfen, hergestellt und im Labor getestet. Sie werden als Grundlage für diesen Schnelltest dienen. Eine polnische Firma ist gerade dabei, den Test zu finalisieren, und unsere Kolleginnen und Kollegen in Polen müssen zeigen, dass er auch in der Praxis funktioniert.
Wie lautet Ihre Schlussfolgerung?
Dass CAE in der Schweiz ausgerottet wurde, ist ein grosser Erfolg. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass wir uns auf den Lorbeeren ausruhen können. Die Einfuhr von SRLV-B-infizierten Tieren stellt weiterhin eine sehr konkrete Gefahr dar, weshalb es wichtig ist, Züchterinnen und Züchter, die Ziegen importieren möchten, dahingehend zu beraten, dass sie vorher die richtigen Tests durchführen.