Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 164, Heft 9,
September 2022
 
Thema Themenheft Tollwut | Cahier thématique Rage  
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 30 August 2022  
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Tollwut

NetAP Erfolgsgeschichte

Seit 13 Jahren tollwutfrei – das «Dog Protection Program» in Indien

Text: Esther Geiser, Präsidentin und Gründerin NetAP

Das indische Hundeschutzprojekt «Dog Protection Program», beweist, dass auch Menschen von einem umfassenden Tierschutz profitieren.

Die bebilderten Präventions-Broschüren kommen in der Schule sehr gut an. Shridevi und Viru erklären den Kindern, worauf sie im Umgang mit Strassenhunden achten müssen. Die Broschüren sollen helfen, das Gelernte nicht zu vergessen. Die Kinder haben sichtlich Spass an dieser willkommenen Abwechslung zum normalen Unterricht. Die meisten Kinder der Klasse mögen Hunde – zum Glück! Denn wie überall in Indien gibt es auch hier, in der indischen Grossstadt Visakhapatnam, unzählige von ihnen.

Visakhapatnam liegt im Bundesstaat Andhra Pradesh, am Golf von Bengalen. Knapp zwei Millionen Einwohner zählt die Stadt. Sie gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. Erdölraffinerien, Kunstdüngerindustrie, Kohlewerke und Stahlwerke prägen das Stadtbild, schaffen Arbeitsplätze und sorgen für ein stetiges Wirtschaftswachstum. Der Verkehr ist mörderisch und die Luft voller Smog. Das Klima ist lediglich in den Wintermonaten erträglich, im Sommer ist es drückend heiss und feucht, ab Juni steigt die Gefahr von Wirbelstürmen.

Kastrieren und impfen statt töten

In dieser tierunfreundlichen Umgebung leben abertausende von Strassenhunden, die nicht bei allen Stadtbewohnern willkommen sind. Und wie überall auf der Welt, wo die Überpopulation von Hunden zu Konflikten mit Menschen führt, fanden auch in Visakhapatnam laufend Tötungsaktionen statt. Einerseits, um die Stadt von den unerwünschten Bewohnern zu «säubern», andererseits – und das war der Hauptgrund – um das Tollwutrisiko zu reduzieren. Solche kurzsichtigen Massnahmen führen aus Erfahrung nie zum erhofften Erfolg: innert Kürze wurden vermeintlich geräumte Reviere von neuen Hunden besetzt.

Heute zeigt Visakhapatnam ein ganz anderes Gesicht. Seit 13 Jahren sorgt ein umfassendes Hundeschutzprogramm für ein besseres Verständnis und Zusammenleben zwischen Hund und Mensch: Das «Dog Protection Program», kurz DPP genannt.

Das DPP basiert auf einer Zusammenarbeit zwischen der lokalen Tierschutzorganisation Visakha Society for the Protection and Care of Animals (VSPCA) und der Schweizer Organisation NetAP – Network for Animal Protection. Sie umfasst neben dem breiten Aufklärungsprogramm, zu dem auch Schulbesuche gehören, ein weitreichendes Kastrationsprogramm, einschliesslich Tollwutprävention, den Betrieb zweier Tierheime, Rettungen, Adoptionsprogramme, ein Fütterungsprogramm für die städtischen Rudel, die Schulung von Tierärztinnen und Tierärzten, ein Aktivierungsprogramm für behinderte Hunde und mittlerweile auch eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei, der Veterinärbehörde und der Stadtverwaltung.

Angefangen hatte alles vor 13 Jahren mit der brutalen Massentötung von Hunden. Nachdem die in Indien weit verbreitete Tollwut erneut ein menschliches Todesopfer im Grossraum von Visakhapatnam forderte, begann man aus Angst vor weiteren Ansteckungen, zusätzlich zu den damals ohnehin üblichen Tötungen, wahllos weitere Hunde zu erschlagen. Das Virus findet sich im Speichel eines tollwütigen Tieres und kann durch einen Biss oder eine Kratzwunde auf den Menschen übertragen werden. Die Angst vor der Tollwut war gross, Wissen über Prävention kaum vorhanden.

Asien und Afrika sind die Hotspots der Tollwut

Gemäss Schätzungen der Global Alliance for Rabies Control sterben weltweit jedes Jahr etwa 59 000 Menschen an Tollwut, davon 95 % in Entwicklungsländern in Asien und Afrika. Insgesamt werden deshalb jährlich ca. 20 Millionen bzw. täglich 55 000 Hunde «vorbeugend» getötet, und zwar unabhängig davon, ob sie Virusträger sind oder nicht. Die in vielen Ländern durchgeführten Impfprogramme greifen zwar, reichen jedoch nicht aus, um die Tollwut nachhaltig und langfristig in den Griff zu bekommen. Nebst dem wichtigen Impfschutz muss vor allem die Überpopulation der Hunde tiergerecht und effektiv bekämpft werden, und dies ist nur durch ein umfassendes Kastrationsprogramm möglich. Impfkampagnen verbunden mit Aufklärung und einem nachhaltigen Hundepopulationsmanagement sind deshalb die effektivsten Massnahmen gegen die Tollwut.

Aus diesem Grund starteten VSPCA und NetAP ein kombiniertes und gross angelegtes Kastrations- und Impfprogramm im Grossraum von Visakhapatnam. Mittlerweile sind dort über 100 000 Hunde kastriert und über 130 000 Hunde geimpft. Der Wirkungskreis des DPP wächst von Jahr zu Jahr: Dank einer 2015 angeschafften mobilen Klinik erreicht das Team auch abgelegene Dörfer in der Agglomeration. Das Programm zeigte sehr rasch ein eindrückliches Ergebnis: Seit nunmehr 13 Jahren gibt es im Grossraum Visakhapatnam keinen einzigen menschlichen Todesfall mehr wegen Tollwut!

Dieser Erfolg blieb auch den Behörden nicht verborgen. Während Behördengänge noch vor wenigen Jahren viel Ausdauer erforderten, ist heute die Zusammenarbeit sowohl mit der Polizei als auch mit der Stadtverwaltung und der Veterinärbehörde ausgezeichnet. Dass die Polizei heute sogar Strassenhunde adoptiert, welche von den Uniformierten richtiggehend verwöhnt werden, ist ein positiver Nebeneffekt des erfolgreichen Programms. Viel wichtiger aber sind die zahlreichen weiteren Aktionen, die gemeinsam geplant und durchgeführt werden, wie zum Beispiel Razzien bei bekannten Hundezüchtern, die jeweils unzählige Verstösse ans Licht bringen.

Unzählige Freiwillige im Einsatz

Das DPP verfolgt einen umfassenden Ansatz: Die Hunde werden von einem geschulten Team schonend eingefangen und im speziell dafür eingerichteten Trakt des Tierheimes untergebracht. Am andern Tag werden sie untersucht, kastriert, geimpft, gegen Parasiten behandelt und markiert. Schliesslich, nach zwei weiteren Tagen unter Beobachtung, werden sie wieder im angestammten Revier freigelassen. Dass sie exakt da freigelassen werden, wo sie eingefangen wurden, ist für das harmonische Zusammenleben unter den Hunden elementar. Früher hatte die Stadt kastrierte Tiere irgendwo freigelassen, was oft zu Beissereien mit Todesfolge führte.

Diese Rudel werden von unzähligen Freiwilligen täglich gefüttert und kontrolliert, so dass Neuzugänge sofort entdeckt und kastriert sowie verunfallte oder erkrankte Tiere behandelt werden können. In den heissen Sommermonaten werden jeweils grosse Wasserbottiche überall in der Stadt verteilt. Durch eine Zusammenarbeit mit der Wasserversorgung der Stadt werden diese täglich gefüllt. Wasser ist insbesondere in diesen Monaten überlebenswichtig, und diese Bottiche löschen zusätzlich auch den Durst der Strassenkühe und anderer Tiere.

Nebst diesen Kastrationen und Impfungen tragen regelmässige Aufklärungsveranstaltungen zu einem besseren Verständnis über die Hunde in der Bevölkerung bei. Ferner sorgen Adoptionstage dafür, dass Hunde, die nicht mehr auf die Strasse zurückkönnen, die Chance auf ein Zuhause bekommen.

Dass das Wohlwollen gegenüber den Hunden stetig wächst, dafür sorgen auch weitere Projekte wie das «Dr. Paw»-Programm, welches Strassenhunde mit physisch oder psychisch eingeschränkten Kindern und Erwachsenen in Pflegeheimen zusammenbringt. Dabei können die betroffenen Menschen die Hunde streicheln und mit ihnen spielen. Sie werden dadurch oft mehr aktiviert, als es durch übliche Therapien erzielt werden kann. Die Hunde haben sichtlich Spass an ihren Einsätzen, kriegen sie doch nebst der umfassenden Versorgung auch noch ganz viel Extra-Aufmerksamkeit.

Auch das bekannte Meeresschildkröten-Schutzprogramm setzt auf die Unterstützung von Strassenhunden. Die fünf grossen Brutstätten für die gefährdete Oliv-Bastardschildkröte an der Küste Visakhapatnams werden allesamt erfolgreich von ehemaligen Strassenhunden bewacht.

Es warten neue Herausforderungen

Unzählige solch kleiner und grosser Projekte bilden einen wichtigen Bestandteil des DPP. Doch trotz Erfolg gibt es immer wieder neue Herausforderungen. Eine neue Schwierigkeit stellt die in der Bevölkerung wahrnehmbare Tendenz dar, immer mehr europäische Rassehunde zu kaufen, obschon viele dieser Rassen für die Haltung in Indien völlig ungeeignet sind. Diese Tiere verkraften das feucht-heisse Klima nur sehr schlecht, weshalb sie bei ersten Schwächen rasch auf der Strasse «entsorgt» werden. Mittlerweile finden sich deshalb sogar Mops, French Bulldog, Spitz, Schäferhund, Golden Retriever und viele weitere Zuchthunde auf den Strassen Visakhapatnams. Werden diese im Rahmen der Kastrations- und Impfprogramme eingefangen, stellt man meist fest, dass die Hunde krank oder verletzt und mit dem Leben auf der Strasse überfordert sind. Sie finden dann Aufnahme in den beiden Tierheimen von VSPCA. Um aber allen Hunden in den Heimen gerecht werden zu können, muss die Anzahl auf 300 Hunde beschränkt werden. Immer öfter müssen aber Hunde notfallmässig untergebracht werden. In Sachen Rassehunde werden deshalb Aufklärung und Adoption noch weiter verstärkt werden müssen.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich das Verhältnis zwischen den Hunden und der Bevölkerung in den letzten Jahren massiv entspannt hat. Es gibt merklich weniger ungewollte Welpen auf der Strasse und dank den regelmässigen Antiparasitenbehandlungen und den überwachten Futterstellen befinden sich die meisten Hunde in einem gesunden Zustand.

Das DPP darf wohl ohne Übertreibung als eines der umfassendsten Hundeschutzprojekte überhaupt bezeichnet werden. Der Aufwand ist zwar gross, doch der nachhaltig erzielte Erfolg zeigt deutlich, dass sich die Anstrengungen auszahlen. Das DPP-Team arbeitet hart, weil jeder stolz auf das Ergebnis seiner Arbeit ist. Auch Shridevi und Viru sind glücklich über ihre Tätigkeit, nicht zuletzt dank der leuchtenden Kinderaugen und der Begeisterung der Kinder bei ihren Schulbesuchen. Denn die Kinder fühlen sich dank dieser Aufklärung jetzt viel sicherer im Umgang mit ihren Strassenhunden.

Das bewährte DPP-Team.
Strassenhunde werden schonend mit dem Netz eingefangen, kastriert und geimpft.
Die Tierambulanz ist zur Stelle, wenn ein Patient Hilfe braucht.
Aufklärungs­broschüren informieren über den Umgang mit Strassenhunden.

Bilder: NetAP

 
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