Gespräch
Interview mit Prof. Dr. Rico Thun«Das SAT profitiert von den herausragenden Forschungseinrichtungen in der Schweiz»
Herr Thun, Sie wussten bereits mit 12 Jahren, welchen Beruf Sie dereinst erlernen würden: Tierarzt. Woher rührte dieser Wunsch?
Prof. Dr. Rico Thun: Ich bin im Oberengadiner Dorf Samedan aufgewachsen, das damals noch stark landwirtschaftlich geprägt war. In Erinnerung ist mir etwa, wie ich jeweils den Kühen hinterher gerannt bin, die frühmorgens entlang der Bahnhofstrasse auf die Weiden getrieben wurden. Gleich gegenüber der Strasse verlief die Bahnstrecke, wo mein Vater als Lokomotivführer unterwegs war. Aber die Loks interessierten mich weit weniger als die Kühe. Auch die langen Sommerferien verbrachte ich viel lieber bei meinen Grosseltern in Ramosch, im Unterengadin. Bald kannte ich jeden Stall im Dorf. Fasziniert hat mich immer der Veterinär, der mit Stethoskop und Köfferchen in den Ställen stand, den Kühen Blutproben entnahm, Impfungen durchführte und Klauenverbände anbrachte.
Das wollten auch Sie eines Tages tun?
Nun, als Kind hegte ich den Wunsch, etwas mit Tieren zu tun. Bauer war naheliegend, aber mein Vater hat mir dann den Beruf des Veterinärs schmackhaft gemacht. Grosse Überzeugungsarbeit brauchte er dazu nicht, denn der Beruf bot mir alles, was ich mir wünschte. Als Tierarzt ist man den Tieren nah – und man kann ihnen helfen. Ich denke, das ist es, was auch heute noch die meisten Tierärztinnen und Tierärzte dazu bewegt, diesen Beruf zu ergreifen.
Mit 20 Jahren haben Sie sich dann für das Veterinärstudium an der Universität Zürich eingeschrieben und mussten feststellen, dass es dazu einer eidgenössischen Maturität bedarf. Sie aber hatten eine kantonale Maturitätsprüfung in der Tasche.
Das war ein Schock. Ich stand plötzlich vor dem Nichts. Freunde schlugen mir vor, stattdessen doch Zoologie oder Biologie zu studieren, das ginge auch mit einer kantonalen Maturität. Doch das wollte und konnte ich auf keinen Fall. Also meldete ich mich nach der Rekrutenschule zur Auffrischung des Stoffes in einer Privatschule an und legte fünf Monate später die eidgenössische Maturitätsprüfung mit dem ganzen Fächerkatalog ab. Im Nachhinein gesehen brachte dieses Malheur auch Gutes mit sich. So lernte ich, wie man diszipliniert und fokussiert an eine Sache herangeht.
Diese Tugenden haben Ihnen eine schöne Karriere beschert, mit Forschungsaufenthalten in den USA und in Deutschland sowie einer Professur für Reproduktionsmedizin an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich. Gleichzeitig haben Sie sich von Ihrem ursprünglichen Wunsch, den Tieren nah zu sein, doch ziemlich weit entfernt.
Der direkte Kontakt mit den Tieren ging nicht verloren, er hat sich nur verlagert, indem die Forschung immer mehr an Bedeutung gewann. Der Kontakt und das Interesse zum Wohle des Tiers blieben aber immer erhalten. Ziel jeglicher Forschung bleibt, die im Labor erarbeiteten Ergebnisse möglichst optimal in die Praxis umsetzen zu können.
Wann und wieso haben Sie sich für den Weg in die Forschung entschieden?
Nach dem Studium in Zürich arbeitete ich während zwei Jahren als Assistent in verschiedenen Grosstierpraxen und brachte nebenbei auch meine Dissertation zu Ende. Bei dieser Doktorarbeit ging es um Untersuchungen über die medikamentelle Beeinflussung der Uterusmotorik beim Schwein, ein Thema das auch in meiner späteren Forschungstätigkeit wieder aktuell wurde. In den USA war ich ein Jahr lang in einer grossen Kleintierklinik in Connecticut tätig, dann durchlief ich ein Internship an der Kleintierklinik der Universität von Urbana-
Champaign, Illinois. Als dieses beendet war, bekam ich die Gelegenheit über Drittmittel eine Stelle in der Abteilung Reproduktionsbiologie anzutreten. Dies war der Anfang meiner wissenschaftlichen Tätigkeit.
Die Fortpflanzungsbiologie sollte ihr Steckenpferd bleiben. In den letzten Jahrzehnten gab es auf diesem Gebiet gewaltige Errungenschaften: z.B. die In-vitro-Fertilisation, der Embryotransfer, das Klonschaf Dolly oder das Auftrennen von Sperma in weibliche und männliche Samenzellen. Eine aufregende Zeit für einen Reproduktionsforscher.
Ja, das waren in der Tat faszinierende Jahre. Gleichzeitig mussten wir aber feststellen, dass sich der Transfer in die Praxis bzw. die Kommerzialisierung als sehr schwierig erwies. Die Forschung in der Schweiz war der Zeit voraus. So mussten wir ein erfolgreich gestartetes Projekt zur In-vitro-Produktion beim Rind, bei dem die Eizellen direkt am lebenden Tier gewonnen wurden, vorzeitig abbrechen.
Im Jahr 2000 haben Sie – zusätzlich zu Ihrer Professur – die Stelle als Chefredaktor des Schweizer Archiv für Tierheilkunde (SAT) angenommen. Wie kam es dazu?
Im Herbst 1999 wurde ich von meinem Vorgänger und Fakultätskollegen Prof. M. Wanner angefragt, ob ich bereit wäre, die Redaktion des SAT zu übernehmen. Ich musste nicht lange überlegen, die Aufgabe empfand ich als grosse Herausforderung.
Aber Sie hatten keinerlei Redaktionserfahrung. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Sind Sie ganz und gar furchtlos?
Nun, gerade ein Greenhorn war ich nicht, da ich zuvor schon zahlreiche Forschungsergebnisse in international bekannten Zeitschriften und natürlich auch im SAT publiziert hatte. Ich kannte also die Abläufe und wusste um die Anforderungen, damit ein Manuskript gute Chancen zur Publikation hat. Aber selbstverständlich hatte ich zu Beginn auch Bedenken. Kommen genügend Beiträge zusammen? Würde ich für jede Arbeit qualifizierte Gutachter finden?
Es sind schliesslich 220 Ausgaben geworden, die Sie von 2000 bis Anfang 2018 verantwortet haben.
Meine Bedenken, dass ich die Zeitschrift nicht füllen könnte, sollten sich als unbegründet erweisen. Es trafen immer genügend Manuskripte ein, allerdings nicht schön regelmässig, sondern zumeist stossweise. Hier musste ich mir eine gute Strategie bei der Auswahl von Themen, Tierart und auch Sprache zurechtlegen.
Mussten Sie auch Artikel zurückweisen?
Das geschah, aber eher selten. Nur 3 bis 5 Prozent der eingereichten Artikel lehnte ich ab, weil sie unsere Kriterien nicht erfüllt haben. In erster Linie sollte eine Untersuchung zu einem Erkenntnisgewinn führen. Dazu gehört eine solide Versuchsanordnung, eine überzeugende Interpretation der Ergebnisse, eine einfache Präsentation und eine klare, verständliche Sprache. Letzteres war beileibe nicht immer der Fall, was zeitintensive Überarbeitungen unter grosszügigem Einsatz des Rotstiftes notwendig machte.
Wie reagierten die Autorinnen und Autoren darauf?
Sie zeigten eigentlich immer grosses Verständnis. Überhaupt darf ich sagen, dass die Zusammenarbeit mit den Autoren und mit den Gutachtern sehr gut war. Dafür möchte ich mich bei allen nochmals herzlich bedanken.
Also lief jede Publikation wie am Schnürchen?
Im Prinzip ja. Nur einmal gab es einen bösen Zwischenfall. Das Paket mit den redigierten und druckfertigen Manuskripten kam aus unerklärlichen Gründen beim Verlag nie an. ...
… ein Horrorszenario für einen Redaktor ...
Gottseidank hatte ich noch die zweite Fassung der Originalbeiträge bei mir, aber die erneute redaktionelle Arbeit blieb mir deswegen nicht erspart. So gelang es, die Ausgabe doch noch rechtzeitig fertigzustellen. Heute würde das mit dem online-Einreichungsverfahren von Manuskripten nicht mehr passieren.
Erinnern Sie sich an Beiträge im SAT, die bei der Leserschaft für grosse Aufregung sorgten?
Ich hatte in all den Jahren sehr wenige Rückmeldungen, weder positive noch negative. Die Leserschaft hat wohl zu wenig Zeit und Interesse, um auf einzelne Artikel zu reagieren.
Welchen Stellenwert hat das SAT in der Wissenschaftsgemeinde?
Die Zeitschrift hat in den letzten Jahrzehnten an Profil und Renommee gewonnen. Ein Beispiel: Anfang der 1980er-Jahre haben wir eine Arbeit über die Tagesrhythmik von Testosteron und Cortisol mit einer dazumal neuen Analysemethode beim SAT eingereicht. Der verantwortliche Redaktor schrieb uns daraufhin, dass er die Studie noch so gerne im SAT publizieren würde, doch sollten wir uns nochmals gut überlegen, ob dies nicht «Perlen vor die Säue geworfen» sei. Natürlich fühlte ich mich in jenem Moment geehrt. Heute würde mich eine solche Einstellung sehr nachdenklich stimmen, eine allzu grosse Bescheidenheit dem SAT gegenüber ist keinesfalls angebracht. Selbstverständlich spielt das SAT nicht in derselben Liga wie ein «Science» oder «Nature», aber es hat einen sehr guten Ruf, der weit ins Ausland strahlt, sogar in China gibt es Abonnenten.
Gab es ein publizistisches Highlight, an das Sie sich besonders gern erinnern?
Es gab mehrere Highlights auf den verschiedensten Gebieten, die ich hier nicht alle aufzählen kann. Neben einigen sehr kompetent abgefassten Übersichtsarbeiten haben mich die zuerst im SAT publizierten neuesten Erkenntnisse insbesondere zum Thema Antibiotikaresistenz sehr gefreut.
Wie teilt sich die Autorenschaft im SAT auf? Dominieren Beiträge von Forschenden aus der Schweiz?
Das SAT hat seine Basis ganz klar in der Schweiz. Wir haben das Glück, dass wir mit der Vetsuisse-Fakultät mit den Standorten Zürich und Bern über international hoch angesehene Forschungseinrichtungen verfügen. Davon profitiert auch das SAT. Man liest die Zeitschrift auch im Ausland, zitiert sie, will darin publizieren. In den letzten Jahren hat der Anteil an ausländischen Beiträgen, insbesondere aus Deutschland und Italien, deutlich zugenommen. Sie machen heute rund 30 Prozent der Artikel aus.
Hat sich auch die Art der Beiträge verändert?
Ich stelle zwei Trends fest: Zum einen nehmen die Fallberichte auf Kosten der Originalstudien zu. Viele junge diplomierte Tierärztinnen und Tierärzte möchten sich auf einem Fachgebiet spezialisieren und Mitglied eines Colleges werden. Dazu müssen sie einige Publikationen vorweisen, wobei dann ein Fallbericht weniger zeitaufwändig ist als eine Originalstudie. Zweitens wird heute vermehrt in Englisch publiziert. Die englischsprachigen Artikel nehmen im SAT bereits über 50 Prozent ein.
Sie selber haben als junger Forscher im SAT zwei Artikel in Rätoromanisch publiziert.
Da wir Rätoromanen ohnehin in der Minorität sind und das SAT alle vier Landessprachen berücksichtigt, schien mir die Zeit reif, diese Situation milde zu korrigieren. Hic Rhodos, hic salta!
Die beiden Megatrends «online» und «Open Access» haben
die Art des Publizierens und der Informationsbeschaffung fundamental verändert. Sehen Sie dies als Chance oder eher als Bedrohung für die wissenschaftlichen Zeitschriften?
Ich bin ein grosser Befürworter von «Open Access». Das Wissen sollte für alle frei zugänglich sein, ohne geographische Grenzen. Dies ist Aufgabe einer umfassenden Bildungspolitik. Auch das SAT ist diesen Weg gegangen. Wie und wo sich die Forschenden und die praktizierenden Kolleginnen und Kollegen künftig ihre Informationen holen, lässt sich aber schwer voraussagen. Abonnieren sie weiterhin eine Zeitschrift? Oder picken sie sich einzelne Open-Access-Artikel aus Datenbanken heraus? Genauso schwer lässt sich voraussagen, wie lange die Print-Ausgaben noch Bestand haben.
Und wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus? Sie treten nun in die zweite Phase des Ruhestands.
Ich habe noch mein Kabäuschen im alten Strickhof, um letzte Arbeiten abzuschliessen. Langweilen werde ich mich aber nicht. So bin ich weiterhin als Beirat für die Stiftung für Tierschutz von Susy Utzinger tätig und engagiere mich fürs Altersforum in meiner Wohngemeinde Bassersdorf. Hier bin ich verantwortlich für den «Freitagstreff», organisiere Vorträge und Diskussionsrunden. Am meisten Zeit aber werde ich mit meinem 3½-jährigen Enkelkind Timi verbringen – für mich momentan meine grösste Freude.
Wird man Sie auch auf der Langlaufpiste antreffen? Sie sollen bereits 16 Mal am Engadiner Skimarathon teilgenommen haben und eine beachtliche persönliche Rekordzeit von zwei Stunden und zwei Minuten aufweisen.
Eher nicht, erfordert doch das Langlaufen viel Training und an jene Zeit von früher anzuknüpfen, ist nicht mein Ziel. Ich werde aber, mehr dem Lustprinzip folgend, sicher hin und wieder auf den Loipen im Engadin und in Davos zu sehen sein.
Das Gespräch führten Nicolas Gattlen, freier Journalist, und Björn
Ittensohn, Redaktion GST-Bulletin.
Text: Nicolas Gattlen