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Für einen stressfreieren Umgang mit Tieren

Die Tierwohl-Expertin Dr. Temple Grandin aus den USA hat ein enormes Wissen über das Verhalten der Tiere und hat damit die Situation von Tieren auf dem Transport und in Schlachthöfen verbessert.

«Be calm. No yelling or screaming» – Bleib ruhig. Schrei nicht, brülle nicht. Diese einfachen und doch so wichtigen Grundsätze im Umgang mit Tieren sind es, die Dr. Temple Grandin immer wieder erwähnt. Temple Grandin ist Verhaltensforscherin an der Colorado State University und hat mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit insbesondere in Nord- und Südamerika massgeblich beeinflusst, wie mit Tieren auf dem Transport und in Schlachthöfen umgegangen wird. Sie hat Einrichtungen entwickelt, in denen die Tiere stressfreier geschlachtet werden und beschreibt genauestens, welche Situationen für Tiere Stress bedeuten: «Wenn Tiere ausrutschen, werden sie unruhig. Ein rutschfester Boden ist essentiell. Ich habe zudem Schweine gesehen, die in Schlachtbetrieben sehr schwierig zu handhaben waren, weil nie eine Person ihren Pferch betreten hatte, bis sie zur Schlachtung geführt wurden. Die Schweine hatten Panik und quiekten».

Die Fluchtzone angewendet auf den Schlachtbetrieb

Bekannt sind auch Temple Grandins Beschreibungen der Fluchtzone und anderer Verhaltensprinzipien bei grasenden Tieren. Sie erläutert, wie Tiere reagieren, je nach Abstand, in dem eine Person sich zum Tier aufhält. Wann hebt das Tier den Kopf? Wann läuft es weg? Wie Temple Grandin erklärt, hängt dies massgeblich davon ab, welche Erfahrungen die Tiere vorgängig mit Menschen gemacht haben. Bei einer Rinderherde, die zwei Jahre ohne Menschenkontakt auf einer Weide verbracht hat, ist die Fluchtzone dementsprechend gross. Diese Grundsätze hat sich Temple Grandin zum Nutzen gemacht, um den Zutrieb auf Schlachthöfen zu verbessern. So kann es für die Tiere bereits grossen Stress verursachen, wenn sie durch ein Fenster Menschen sehen, vor denen sie nicht zurückweichen können, wenn sie einen zu dunklen Gang betreten müssen, oder wenn die Wände reflektieren.

Temple Grandin versucht, auf alle Fragen zum Tierwohl eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu finden. Sie betont denn auch, wie wichtig es ist, über Ergebnisbasierte Messwerte zu verfügen. Sie hat auf der Grundlage solcher Messungen ein Tierschutz-Audit für Schlachtbetriebe entwickelt, das Restaurantketten in Amerika eingesetzt haben. Im Audit wird etwa überprüft, welcher Prozentsatz der Tiere beim Zutrieb stürzt oder wie viele Schweine und Rinder in der Betäubungsfalle oder beim Betreten dieser vokalisieren. Die Tierschutz- Audits haben gezeigt, dass auf dem Gebiet der Betäubung und des Zutriebs von Tieren in Rinder- und Schweineschlachtbetrieben der USA und Kanadas erhebliche Verbesserungen erzielt worden sind. In den meisten Schlachtbetrieben waren teure Nachrüstungen nicht erforderlich, um die Audits zu bestehen. Vielmehr sind es teilweise kleinere Anpassungen, die eine grosse Wirkung haben. Dazu gehört zum Beispiel, die Tiere richtig und ruhig vorwärtszutreiben oder einen Karton anzubringen, der einfallende Sonnenstrahlen verdeckt, weil sich Tiere weigern darüber zu gehen.

Auf den richtigen Umgang mit Herdetieren aufmerksam machen

Die Wissenschaftlerin betont dabei, wie wichtig es ist, das Personal im Schlachtbetrieb gut zu schulen. «Jeder muss lernen, dass seine Position beeinflusst, wie sich das Tier bewegt.» Das Management habe einen entscheidenden Einfluss und es gelte, allen die Grundlagen zu vermitteln: Den Elektrotreiber weglegen, keine lauten Rufe, ruhig bleiben. Temple Grandin führt aber auch aus, dass Probleme auf den Schlachthöfen ihre Ursache oft beim falschen Umgang mit den Tieren auf der Farm haben. Es sei bereits dort sehr wichtig, mit den Tieren zu arbeiten und sie an den Menschen zu gewöhnen. Auch wenn dies Zeit benötigt. Temple Grandin sieht hier auch die Rolle der Tierärztinnen und Tierärzte, ihre Kunden darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig der richtige Umgang mit Herdentieren ist.

Die Wichtigkeit des menschlichen Handelns

Viele Ratschläge von Temple Grandin erscheinen einfach, und doch sind es gerade diese Grundlagen, die häufig zu wenig beachtet werden. Und mögen die Bedingungen in der amerikanischen und der Schweizer Landwirtschaft sowie den Schlachtbetrieben auch unterschiedlich sein, gibt es in der Lehre von Temple Grandin doch viele Ansätze, die auch hier ihre Berechtigung haben. So betont sie denn immer wieder die Wichtigkeit des menschlichen Handelns im Umgang mit den Tieren. «The first thing you have to do before learning any higher skills is to calm down, stop screaming and start observing» – Das Erste was du vor dem Erlernen höherer Fähigkeiten tun musst: Beruhige dich, höre auf zu schreien und fange an, zu beobachten.

Christoph Peter und Annik Steiner von der GST-Geschäftsstelle haben Dr. Temple Grandin anlässlich der Nutztiertagung des Schweizer Tierschutzes STS zum Thema «Tierschutz auf Transporten und Schlachthöfen» am 6. Juni 2016 in Olten getroffen. Dr. Temple Grandin hielt an der Tagung ein Referat zum praktischen Tierschutz in Schlachthöfen. Eine deutsche Version ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu diesem Thema ist verfügbar unter: http://www.grandin.com/german/german.trans1.pdf

Bild: Urs Jaudas/ Tages-Anzeiger.ch
Typische Skizze von Temple Grandin:
Warum sind ein bogenartiger Gang und ein runder Gruppenpferch besser geeignet als geradlinige? Wenn die Tiere um die Kurve gehen, denken sie, dass sie wieder in die Richtung gehen, aus der sie kommen. Die Tiere können Menschen und sonstige Aktivitäten am Ende des Gangs nicht sehen. Dabei wird der natürliche Instinkt von Vieh und Schafen ausgenutzt, immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren zu wollen.

Dr. Temple Grandin

Dr. Temple Grandin ist nicht nur aufgrund ihres enormen Wissens zum Verhalten von Tieren bekannt, sondern auch aufgrund ihrer speziellen Biographie. Temple Grandin ist Autistin. Sie schreibt dieser Eigenschaft und dem damit verbundenen Denken in Bildern auch ihre Motivation zu, das Verhalten der Tiere zu studieren. Insbesondere in den USA ist sie auch als Expertin für Autismus bekannt, weil sie ihre persönlichen Erfahrungen öffentlich teilt. Temple Grandin hat zahlreiche Bücher geschrieben und ihre Lebensgeschichte wurde verfilmt.

Mehr Informationen: www.grandin.com

Buchtipp: «Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier» von Temple Grandin

«Probleme mit Tieren lassen sich nur dann lösen, wenn man ihre Perspektive einnimmt, und zwar wortwörtlich. Man muss denselben Gang entlanggehen wie die Tiere und tun, was sie tun.» Temple Grandin geht diesen Weg. Sie beschreibt in ihrem Buch verständlich und praxisnah, wie Tiere die Welt wahrnehmen und wie sie dadurch besser verstanden werden können. Sie listet dabei zu verschiedenen Themen auf, welche Punkte speziell beachtet werden müssen. Beispielsweise zählt sie auf, vor was Kühe scheuen. Ihr Augenmerk liegt auf den Details, die regelmässig übersehen werden. Grandin begründet ihre Aussagen mit detaillierten Erklärungen aus der Verhaltensforschung und selbstverständlich ihren eigenen Erfahrungen. Sie geht auf die Unterschiede des Gehirns zwischen diversen Spezies ein und nimmt immer wieder auch Bezug auf die Ähnlichkeiten zwischen der Wahrnehmung autistischer Menschen und Tiere. Das Buch ist keineswegs ein reines Buch zu Nutztieren. Insbesondere beim Verhalten sowie den Auswirkungen der Zucht beschreibt Grandin viele Beispiele von Katzen und Hunden. Grandin öffnet der Leserin und dem Leser die Augen und trägt mit diesem Buch wesentlich zum Verständnis für Tiere bei.

«Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier»
Temple Grandin
Englischer Originaltitel: Animals in Translation
Verlag Rad und Soziales, 2015
372 Seiten, Taschenbuch
ISBN 978-3-945668-10-8
Preis: CHF 29.90, Preis eBook: CHF 10.90