Verbandsnachrichten
Das oberste Ziel ist immer die Auswilderung
Kranke oder verletzte Igel sind häufige Patienten in Tierarztpraxen. Sie benötigen eine fachkundige und wildtiergerechte Versorgung.
An diesem Montagmorgen Ende Mai ist es ruhig auf der Igelstation Frauenfeld. Der einzige aktuelle Bewohner hat sich tief in seiner Kiste in Zeitungsschnipseln eingeigelt und schläft. Vor neun Tagen wurde der Igel geschwächt in einem Garten gefunden und von Privatpersonen auf die Igelstation gebracht. Seither hat er mehr als 200 Gramm zugenommen und darf bald wieder zurück in die Freiheit. «Igel sind sehr reviertreu», erklärt Margareta Schlumpf, Co-Leiterin der Igelstation Frauenfeld. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Finder den Fundort des Igels genau notiert haben, damit das Tier später wieder am selben Ort freigelassen werden kann.
Die Igelstation, die vom Tierschutzverein Frauenfeld betrieben wird, betreut das ganze Jahr über hilfsbedürftige Igel, in der Hauptsaison zwischen Oktober und Dezember ist sie mit zirka 20 Igeln jeweils voll ausgelastet. Dann gilt es, die zu kleinen und zu leichten Tiere aufzupäppeln, damit sie den Winter überstehen. «Ein Igel sollte dafür zirka 450 Gramm wiegen», weiss Margareta Schlumpf. Sie arbeitet im Turnus mit 14 anderen Personen auch beim telefonischen Beratungsdienst der Igelstation mit – 3000 bis 4000 Telefonanrufe gehen dort jährlich ein.
Zusammenarbeit mit der Igelstation
Igel sind in der Natur vielen Gefahren ausgesetzt. Dazu gehören Vergiftungen durch Pestizide und Dünger, aber auch Verletzungen durch Fadenmäher oder Rasenmähroboter in Hausgärten. Dabei gibt es immer wieder verletzte Tiere, die eine tierärztliche Versorgung benötigen. Eine Tierärztin, die regelmässig Igel behandelt, ist Claudia Volz, Vorstandsmitglied der GST-Fachsektion für Tierschutz (STVT). «Benötigen Igel medizinische Hilfe, verweist die Igelstation die Finderinnen und Finder oft an uns.» Viele Privatpersonen bringen Igel auch direkt in die Praxis.
Für die Igelstation ist die Zusammenarbeit mit den Tierärztinnen und Tierärzten sehr wichtig, wie Margareta Schlumpf erläutert. Im Team der Igelstation ist auch eine Tierärztin. «Wir können die Tiere jedoch nur von aussen anschauen. Braucht ein Igel ein Röntgen, muss er in eine Tierarztpraxis.» Auch für die Abgabe von Tierarzneimitteln arbeitet die Station mit einer Praxis zusammen. Im Gegenzug berät die Igelstation Tierärztinnen und Tierärzte bei Fragen rund um Igel. Margareta Schlumpf betont, dass die Station gerne Igel aufnimmt, die nach einer medizinischen Versorgung in der Praxis noch etwas Betreuung und Zeit benötigen, bevor sie wieder freigelassen werden können.
Das oberste Ziel der gesundheitlichen Versorgung von Igeln ist immer die Auswilderung. «In gewissen Fällen könnten wir ein Tier zwar retten, es wäre aber in der Wildnis nicht mehr überlebensfähig», führt Claudia Volz aus. «Das ist nicht im Sinne des Tierwohls.» Auch wenn es frustrierend sei, einem Tier nicht helfen zu können, sei in diesem Fall die Euthanasie vorzuziehen.
Ethische und finanzielle Fragen
Claudia Volz nimmt uns an diesem Tag mit in das Tiermedizinische Zentrum Tezet AG, wo sie als Kleintierärztin tätig ist. In einer Box wartet der Igel «Diabolo», der von einem Tierschutzverein in die Praxis gebracht wurde. Sein linkes Hinterbein schleift er am Boden nach. Claudia Volz narkotisiert den Igel und untersucht ihn gründlich. Auch ein Röntgenbild des Rückens und der Hinterbeine hat sie bereits erstellt. Leider ist es schwierig, eine klare Diagnose zu stellen, denn die Untersuchungen ergeben weder eine innerliche noch äusserliche Verletzung. Gefährlich ist das Nachschleifen des Beins vor allem, weil sich der Igel so mit der Zeit eine grössere Wunde zuziehen könnte. Diese sind sehr anfällig für den Befall mit Maden. «Bleibt eine solche Wunde lange unbehandelt, können wir den Igel nicht mehr retten», so die Tierärztin. «Diabolo» wird daher vorsorglich zur weiteren Beobachtung zurück in die Igelstation gebracht.
Der Fall von «Diabolo» zeigt anschaulich, welche Fragen im Zusammenhang mit der Behandlung von Wildtieren im Raum stehen, die zuweilen nur ungenügend beantwortet werden können: Wie weit soll die Behandlung von Wildtieren durch Tierärztinnen und Tierärzte gehen? Und vor allem: Wer soll das Ganze finanzieren? Bis heute leisten Tierärztinnen und Tierärzte viele nicht entgoltene Arbeitsstunden für die Versorgung verletzter Wildtiere.
Dagmar Sens, Tierärztin und Beauftragte des Artenschutzvereins Pro Igel, weiss um diesen Konflikt. «Auch die allermeisten Igelstationen sind private Einrichtungen und bestehen nur dank Spenden. Das Personal arbeitet ehrenamtlich und muss sich nicht nur um die Igelpflege kümmern, sondern auch um das Generieren von finanziellen Mitteln.» Projekte im Artenschutz würden zeitweise von der öffentlichen Hand unterstützt, für die Pflege des Einzeltieres und den damit verbundenen Tierschutzaspekt gebe es jedoch in der Regel keine öffentliche Unterstützung finanzieller Art.
Aus Sicht von Pro Igel ist vor allem wichtig, dass Igel eine fachkundige Erstuntersuchung erhalten. «Tierärztinnen und Tierärzte, die selber nicht igelkundig sind, können Igel an eine Igelstation verweisen, wenn nicht eine unmittelbare Notsituation besteht», betont Dagmar Sens. Pro Igel stellt zur Unterstützung der Tierärztinnen und Tierärzte das Handbuch «Igel in der Tierarztpraxis» zur Verfügung (siehe Kasten).
Von freundlich bis «Achtung, beisst»
Trotz der teilweise schwierigen Entscheidungen und auch wenn die Versorgung von Igeln einiges mit sich bringt – Flohbisse inklusive – möchte Claudia Volz die Erlebnisse mit den stacheligen Vierbeinern nicht missen: «Igel sind wirklich lustige Tiere und sie bringen uns in der Praxis immer wieder zum Lachen.» Die Tierärztin erlebt bei den Igeln die unterschiedlichsten Charaktere, von freundlich und neugierig über ängstlich bis zu jenen, die mit «Achtung, beisst» beschildert werden müssen. «Bei meinem ersten stationären Igel war für mich zudem eindrücklich, wie viel Chaos ein so kleines Tier anrichten kann.» Und noch etwas weiss Claudia Volz über Igel zu berichten: «Man würde nicht denken, dass diese kleinen, eher unsportlich aussehenden Genossen sehr schnell rennen können, wenn sie ihre Chance auf die Freiheit wittern.»
Alle Merkblätter und Links sind im Vet-Portal der GST zu finden.
Rechtliches und Informationen rund um die Behandlung von Igeln
Die gesetzliche Grundlage zu den Igeln ist in der Schweiz sehr komplex. Im Gegensatz zu anderen Wildtieren wird deren Schutz und Pflege nicht im Jagdgesetz geregelt, sondern im Natur- und Heimatschutz- sowie im Tierschutzgesetz. Die Bestände des Igels gehen europaweit zurück. Auf der roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) wurde er 2024 erstmals als «potenziell gefährdet» eingestuft. Der Igel ist im Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere (Berner Konvention) aufgeführt und wurde daher in den Anhang 4 der Natur- und Heimatschutzverordnung aufgenommen. Für den Schutz der dort aufgeführten Arten sind die Kantone zuständig. Aus diesem Grund bestehen kantonal unterschiedliche Schutzregelungen. Auch die Bewilligung von Igelstationen unterliegt den Kantonen. Wer sich über die kantonale Regelung informieren möchte, wendet sich am besten an das zuständige Amt für Veterinärwesen oder Naturschutz. Informationen finden sich zudem im Merkblatt «Anforderungen an die temporäre Haltung und Notpflege von Igeln», 2017, BAFU, BLV.
Die Schweizerische Vereinigung für Wild-, Zoo- und Heimtiermedizin (SVWZH), eine Fachsektion der GST, hat in einem Positionspapier Grundlagen für die Pflege von Wildtieren und Anforderungen an Wildtierstationen definiert. Sie setzt sich für eine einheitliche gesamtschweizerische Regelung ein. https://svwzh.ch
Der Artenschutzverein Pro Igel hat 2024 ein Merkblatt zur Versorgung von Igeln in Tierarztpraxen publiziert. Tierarztpraxen können bei Pro Igel kostenlos die aktuelle Ausgabe des Buches «Igel in der Tierarztpraxis» beziehen. Kontakt: info@pro-igel.ch. Die Website www.pro-igel.ch enthält zudem viel Wissenswertes rund um Igel sowie eine Liste mit Igelstationen.
«Igel haben eine ganz andere Physiologie als unsere anderen Patienten»
Claudia Volz ist Kleintierärztin und Mitglied des Vorstands der Schweizerischen Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz STVT.
Was ist im Zusammenhang mit der Erstversorgung von Igeln wichtig?
Claudia Volz: Initial braucht es eine gute Allgemeinuntersuchung, um abschätzen zu können, ob der Igel überhaupt eine Chance hat, wieder ausgewildert werden zu können. Wenn es der Zustand zulässt, sollte der Igel in Kurznarkose untersucht werden. Vieles wird sonst verpasst oder falsch behandelt. Im schlimmsten Fall wird ein Tier therapiert, obwohl die Behandlung aussichtslos ist. Stress und Leid für das Tier müssen soweit möglich vermieden werden.
Worauf muss bei der Behandlung von Igeln besonders geachtet werden?
Wichtig ist, dass ein gewisser Befall mit Ektoparasiten wie Flöhen und Zecken bei einem Igel normal ist. Eine vorschnelle Behandlung mit Medikamenten kann einen schon geschwächten Igel im schlimmsten Fall töten. Wer Igel behandeln will, muss sich mit ihrer Physiologie und den Besonderheiten vertraut machen, sonst ist das Risiko, dass man mehr schadet als nützt, viel zu gross. Ein Igel «funktioniert» ganz anders als unsere anderen Patienten. So vertragen Igel viele Medikamente nicht, die wir bei Hunden und Katzen anwenden, und können diese nicht verstoffwechseln. Die Körpertemperatur der Igel ist viel tiefer, mit 33,5-35°C im Winter und 34,5-36,5°C im Sommer. Man sollte Igel nicht zu stark aufwärmen, weil man denkt, sie hätten Untertemperatur. Zudem ist es bei den Weibchen wichtig, auf Anzeichen zu achten, ob sie allenfalls Junge haben, die allein nicht überleben können.
Welche Abklärungen sollten gemacht werden?
Meistens braucht es eine Kotuntersuchung, da schwache oder kranke Igel oft Endoparasiten in der Lunge oder im Darm haben, welche therapiert werden müssen. Auch immer wieder notwendig sind Röntgenaufnahmen zur Feststellung von Knochenveränderungen, zur Beurteilung von Lungenveränderungen, und so weiter. Seltener machen wir auch mal einen kurzen Ultraschall, Blutuntersuchungen jedoch kaum.
Welche Erkrankungen oder gesundheitlichen Probleme treten beim Igel am häufigsten auf?
Das häufigste Problem sind Endoparasiten, allen voran Lungenwürmer. Auch starke Zecken- oder Flohbefälle können bei schwachen Igeln problematisch werden. Immer wieder kommen Verletzungen durch automatische Mäher oder durch andere Tiere und Autos vor. Sehr oft werden uns auch einfach geschwächte Igel gebracht. Häufig liegen dann Durchfallerkrankungen vor. Die Ursachen für diese sind jeweils schwer zu eruieren. Manchmal liegt es an aufgenommenem Dünger, es können aber auch Parasiten oder schlicht Dysbakteriosen durch falsches Futter für so einen Zustand verantwortlich sein.
Zum Video «Erstversorgung in der Tierarztpraxis».