Fokus
«Wichtig wäre es, im Alltag Raum für ethische Fragestellungen zu schaffen»
Der Tierethiker Nico Müller spricht zum Jahresbeginn über ethische Fragen aus dem tierärztlichen Alltag. Er macht klar: Die Gesellschaft kann moralische Fragen nicht an die Ethik delegieren, sondern muss sie breit diskutieren.
Warum widmen Sie sich als Philosoph Fragen rund um Tierethik?
Nico Müller: Manchmal wundere ich mich, wie viele Philosophinnen und Philosophen es schaffen, Tiere zu ignorieren. Es gibt schliesslich mehr Tiere als Menschen. Häufig befinden sich Tiere in der Situation der «Underdogs», das interessiert mich sehr. Ich habe auch einen persönlichen Bezug zu Tieren: Meine Lebenspartnerin ist Tierärztin, wir leben mit zwei Katzen und einem Pferd.
Ist der Mensch etwas Besonderes, oder sollte er sich auf die gleiche Stufe stellen wie Tiere?
Als Philosoph muss ich zurückfragen: was heisst «Stufe»? In der Philosophie würden die meisten Leute eine Unterscheidung zwischen Mensch und anderen Tieren treffen, insofern der Mensch das einzige Tier ist, das moralische Verantwortung übernehmen kann – das also für schlechte Taten Kritik und für gute Taten Lob verdient. Das kann man nur, wenn man auf eine bestimmte menschentypische Art über sein Handeln nachdenken kann. Doch das sagt noch nichts darüber aus, wieviel Rücksicht und Ressourcen uns zustehen. Da gehen die philosophischen Meinungen weit auseinander. Zwei Positionen sind besonders einschlägig.
Welche?
Sogenannte utilitaristische Positionen gehen davon aus, dass gutes Handeln dadurch definiert ist, dass wir das Leiden in der Welt minimieren und die Freude maximieren. Das können wir bei Menschen wie auch bei Tieren tun, kognitive Unterschiede sind da weniger wichtig. Sogenannte vertragstheoretische Ansätze gehen hingegen davon aus, dass Moral auf einem stillschweigenden Vertrag beruht; zum Beispiel einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht gegenseitig töten. Doch diese Abmachung umfasst nur jene Lebewesen, die am Vertrag beteiligt sind. Tiere also nicht. Letztlich müssen wir alle selber reflektieren und zu einer Auffassung kommen, mit der wir leben können.
Ich kann die Frage nach der richtigen ethischen Einstellung also nicht an Sie als Ethiker abschieben?
Das ist so, die Ethik ist keine Doktrin. Sie setzt sich mit Begründungen auseinander und denkt Argumentationslinien durch. In der Praxis ist es besonders spannend, wenn man einen Gedankengang zu Ende denkt und danach seine Meinung und sein Verhalten ändert, weil man merkt, dass man nur so seiner Einstellung gemäss handelt.
Sollen Tiere das Recht auf Leben haben?
Als Zukunftsvision finde ich das spannend und es spricht vieles dafür. In einer Welt, in der Tiere Grundrechte hätten, müssten wir unser Verhalten ihnen gegenüber viel stärker begründen können. Man bräuchte zum Beispiel einen viel stärkeren Grund als bloss das Geldverdienen, um ihre Tötung zu rechtfertigen. Darum ist ein Recht auf Leben noch nicht realistisch, solange die Fleischproduktion Abermillionen Tiere pro Jahr verschlingt. Wir können aber versuchen, in graduellen Schritten eine Gesellschaft zu werden, die Tierrechte tatsächlich umsetzen kann.
Eine Tierärztin, ein Tierarzt entscheidet nach bestem Wissen und Gewissen, wann ein Tier euthanasiert wird, und betrachtet dies als ethisch korrekt – stimmen Sie dieser Sichtweise zu?
Das ist eine extrem schwierige Entscheidung mit sehr hoher Verantwortung. Eine Tierärztin, ein Tierarzt will das Beste für das Tier. Bei der Euthanasie muss man sich fragen, wann die Biografie des Tiers am besten aufhört. Wie viel Leid, wie viel Freude sind noch zu erwarten? Kann das Tier speziestypisches Verhalten ausleben, kann es seinem Charakter entsprechend leben? Eine zu frühe oder zu späte Euthanasie ist nicht gut, es gibt quasi den optimalen Zeitpunkt, um das Leben zu beenden. Diesen zu finden, ist eine schwere Aufgabe, in die auch die Besitzerin oder der Besitzer einbezogen werden muss, weil diese das Tier persönlich kennen. Das braucht Zeit. Denn das Tier selber kann nicht sagen, was es will.
Was sollen Tierärztinnen und Tierärzte tun, wenn die Kundschaft aus praktischen Gründen eine Euthanasie verlangt?
Das nennt man eine Gefälligkeitseuthanasie. Eine solche Tötung verstösst gegen die ethischen Grundsätze der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte. Man kann stattdessen eine Abtretungserklärung verlangen und das Tier an eine neue Stelle vermitteln. Oftmals nehmen TPA oder Tierärztinnen die Tiere sogar übergangsweise privat auf. Das ist sehr ehrenwert – es ist aber auch unbezahlte Arbeit, die sie für die Gesellschaft leisten. In einer gerechten Welt gäbe es dafür eine Kompensation.
Heute sind sehr viele medizinische Behandlungen möglich. Geht das zu weit, oder ist es richtig, wenn Tiere die gleichen Therapien erhalten wie Menschen?
Auch hierbei stellt sich die Frage, wieviel Schmerz dem Tier erspart wird, und ob es sich nach der Behandlung spezies- und persönlichkeitstypisch verhalten kann. Jedoch sind in der Praxis aus finanziellen Gründen für Tiere oftmals viel weniger Behandlungen möglich als für Menschen. Dies auch, weil nur sehr wenige Tiere versichert sind. Insgesamt ist weniger eine Überbehandlung als vielmehr eine finanziell bedingte Unterbehandlung das Problem.
Sollen denn Tiere überhaupt teure Behandlungen erhalten, wenn gleichzeitig Menschen in Armut leben?
Wir überlegen uns nicht genug, ob es Win-Win-Lösungen geben könnte. Oftmals besteht diese Ressourcenkonkurrenz gar nicht. Wenn ich zum Beispiel eine Tierversicherung abschliesse, kann ich meinem Tier die beste Behandlung garantieren und habe gleichzeitig noch genug Geld, um zu spenden. Das verbreitete Konkurrenzdenken zeigt aber auch, dass wir Tiere immer noch als gesellschaftliche Aussenseiter betrachten.
Ein Tier kann nicht selber über seine Behandlung entscheiden; bräuchte es mehr Leitlinien?
Wichtiger wäre, im Praxisalltag Raum für ethische Reflexion zu schaffen. In manchen Betrieben macht man regelmässige Fallbesprechungen, da kann man auch einmal ethische Schwierigkeiten thematisieren. Wenn man interne Weiterbildungen macht, kann man auch einmal eine Veterinärethikerin einladen. Im Alltag ist es zudem oft so, dass die Tierärztin oder der Tierarzt weiss, was der beste Entscheid wäre, diesem aber ökonomische Gründe entgegenstehen. Statt mehr Leitlinien zu erstellen, wäre es wichtiger, diese ökonomischen Rahmenbedingungen zu verändern, zum Beispiel durch bessere Vorsorge.
Wenn ein Nutztier leidet und geschlachtet werden muss – ist es aus ethischer Sicht besser, mehr Leid zu verhindern und es sofort zu erlösen, oder das Fleisch zu nutzen und das Tier in den Schlachthof zu transportieren?
Es scheint mir schwierig, das ökonomische Interesse am Fleischverkauf ethisch sehr hoch zu gewichten. Um so etwas rechtfertigen zu können, müsste man eine ethische Position einnehmen, die sehr harsch mit Tieren umgeht. Leider haben wir über die Jahrzehnte ein System der Tierproduktion geschaffen, zu dem die meisten Leute vermutlich nicht stehen können.
Unser Umgang mit Tieren hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert.
Ich würde rückblickend nicht von allzu viel Fortschritt sprechen. Klar, wir haben seit 1978 ein nationales Tierschutzgesetz und heute wird zumindest diskutiert, ob wir Fleisch essen sollen oder nicht. Aber aus Sicht der Tiere gibt es auch Verschlimmerungen. Die Schlachtzahlen sind in den letzten zwanzig Jahren geradezu explodiert. Die Schweizerinnen und Schweizer essen ungefähr konstant viel Fleisch, aber mehr Huhn – und so werden zahlenmässig mehr Tiere geschlachtet als zuvor, als noch mehr Rindfleisch gegessen wurde. Die Anzahl der Tierversuche ging von den 1980er- zu den 1990er-Jahren deutlich zurück, doch seither stagniert sie. Es ist alles eine Mischrechnung.
Tierärztinnen und Tierärzte stellen immer öfter fest, dass ihre Kundschaft ihre Haustiere als Familienmitglieder betrachtet. Ist dies ein Schritt hin zu mehr Respekt vor den Tieren?
Das kommt darauf an, was man mit «Familienmitglied» meint. Bedeutet es zum Beispiel nur, dass das Tier aufs Bett und aufs Sofa darf? Ob das Tier wirklich ein echtes Familienmitglied ist, kann man in vielen Fällen bezweifeln. Wenn, dann wäre es oft das einzige Mitglied der Familie, dem aus finanziellen Gründen eine medizinische Behandlung verweigert und für das keine Krankenversicherung abgeschlossen wird. Ich würde das Verhältnis deshalb nicht schönreden.
Ist es problematisch, wenn wir Tieren Weihnachtsgeschenke machen oder ihnen Mäntelchen anziehen?
Solange es dem Bedürfnis des Tieres entspricht, ist das kein Problem. Aber wenn ich dem Tier ein Kostüm kaufe, weil ich denke, es habe einen Sinn für Mode, dann wird es womöglich problematisch – dann schreibe ich dem Tier nämlich meine eigenen Bedürfnisse zu. Wirklich gefährlich wird so eine Vermenschlichung, wenn Leute beispielsweise denken, die Katze kratze aus Trotz am Sofa, und sie dafür bestrafen. Damit übersehen sie die wahren Bedürfnisse der Katze und fügen ihr einen Schaden zu. Versuchen wir, Tiere so ernst zu nehmen, wie sie sind.
Zur Person
Der 34-jährige Nico Müller hat Philosophie und Soziologie in Zürich studiert. Heute ist er Philosoph an der Universität Basel, wo er 2022 mit einer Doktorarbeit zur Tierethik promovierte. Aktuell ist er Projektleiter im Nationalen Forschungsprogramm 79 «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft». Sein Projekt befasst sich aus ethischer Perspektive mit dem Thema der Ausstiegsplanung aus Tierversuchen.