Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 166, Heft 10,
Oktober 2024
 
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 01 Oktober 2024  
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Fokus

Nur die Praxis steht noch

Nicole Jegerlehner

Beim Unwetter im bernischen Brienz Mitte August hat der Tierarzt Bruno Lötscher all sein Hab und Gut verloren. Seither erlebt er ein Wechselbad der Gefühle. Seine Praxis kann er mit Müh und Not weiterbetreiben.

Sie konnten sich im allerletzten Moment retten: Als Bruno Lötscher sah, wie der Wasserpegel im Milibach neben seinem Wohnhaus anstieg, rief er seine Frau Franziska Grütter. Sie hatten keine Zeit, noch etwas mitzunehmen – sie packten nur ihre Hunde und rannten los zum Auto, ohne Schuhe. Bruno Lötscher musste das Auto zurücksetzen, um fortfahren zu können, hin zum Milibach. «Ich sah, wie die Wassermassen stiegen und fragte mich, ob wir mitgerissen würden. Ich klammerte mich ans Steuerrad.» Doch sie kamen davon – im Rückspiegel sah der Tierarzt die schwarzen Fluten, die Richtung Haus donnerten. Das Paar alarmierte die beiden Angestellten, die sich im Nachbarhaus aufhielten.

Bruno Lötscher und Franziska Grütter flohen mit dem Auto, die Strasse hinauf, weg vom reissenden Strom; sie harrten im Auto aus. Lange wusste Bruno Lötscher nicht, ob seine Tierärztin Sofia Benagli, die seit einem Jahr bei ihm arbeitet, und die Praktikantin Joséphine Burchard sich hatten retten können. Doch die beiden hatten etwas oberhalb ihres Wohnhauses unter eine Eiche fliehen können. Dort standen sie in Todesangst, während links und rechts von ihnen Wasser und Felsbrocken hinunterschossen. In Panik flohen sie weiter – und konnten sich mit Bruno Lötscher in Verbindung setzen. Später retteten Lötscher und Burchard eine Frau aus einem Haus. Auch die acht Esel von Lötscher und Benagli konnte das Tierärzteteam retten: Sie kletterten über das Geröll und trieben die Esel durch das Wasser aus der Gefahrenzone hinaus. Wo zuvor der Stall gewesen war, klaffte ein Loch. «Es ist ein rätselhaftes Wunder, dass sich die Esel in Sicherheit bringen konnten», sagt Lötscher.

Bruno Lötscher wusste unterdessen, dass Anina von Arx, die seit ihrem Staatsexamen im Mai bei ihm angestellt ist, die Praxis rechtzeitig verlassen und ihr Zuhause im Nachbardorf erreicht hatte, bevor die Strasse verschüttet worden war.

Völlig durchnässt fanden das Tierärzteteam, die beiden Hunde und die gerettete Frau Unterschlupf bei einem älteren Ehepaar, in einem Haus, das zwar innerhalb der Gefahrenzone lag, aber in der Not der einzige trockene Ort war. Strom und Wasser gab es nicht mehr, der Handyempfang funktionierte nicht immer. Und immer bestand die Gefahr, dass der Geschiebesammler bersten und sich aller Schutt über das Haus ergiessen könnte. Gegen ein Uhr in der Nacht flog die Rega die Gruppe aus.

«Wie ein Wunder»

«70 Menschen hätten sterben können, wie durch ein Wunder haben alle überlebt», sagt Bruno Lötscher. Alle haben bei Bekannten Unterschlupf gefunden. Bruno Lötscher und Franziska Grütter schliefen in der ersten Woche auf dem Boden in der Praxis, nun wohnen sie in einem Ferienhaus, das die Besitzer ihnen vermieten. «Von einem Moment auf den anderen sind wir zu Flüchtlingen geworden», sagt der Tierarzt. «Wir wohnen in einem fremden Haus und tragen Kleider von anderen Leuten.»

Nach dem grossen Unwetter war es wichtig, so rasch wie möglich Geröll zu entfernen, damit das Bachbett und der Geschiebesammler ein nächstes Gewitter wieder auffangen können. Zivilschutz und Militär standen im Einsatz. Sie haben auch Geröll und Gesteinsbrocken rund um das 300-jährige Haus von Bruno Lötscher und Franziska Grütter entfernt. Das einzige, was im Haus mehr oder weniger unversehrt war, ist der Estrich. «Dort bewahrt man jene Sachen auf, die man nicht mehr braucht.» Das mit viel Liebe baubiologisch renovierte Hausinnere ist zerstört, alles Hab und Gut unter Steinen und Holz begraben.

In manchen Momenten freut sich Bruno Lötscher darüber, dass alle überlebt haben. In anderen verzweifelt er, weil er alles verloren hat: «Während 25 Jahren entstand in unserem Garten ein Naturparadies, nun ist alles weg.» Seltene Obstbäume, Vogelhecken, Wild- und Zitrusfrüchte, Trockenmauern sind zerstört. «Wie sieht nun unsere Zukunft aus?»

Die Arbeit lenkt ab

Halt gibt Lötscher die Arbeit. Ab dem ersten Tag nach dem Unwetter hat das ganze Team weitergearbeitet. Die Praxis unten am See war zwar nicht verschüttet worden; doch sperrten die Behörden in den ersten drei Wochen den Zugang, so dass sie nur zu Fuss erreichbar war. «Meine Tierärztinnen Sofia Benagli und Anina von Arx arbeiten, als hätten sie fünf Jahre Erfahrung – sie haben selbständig Heimbesuche gemacht und sind über sich hinausgewachsen», sagt Bruno Lötscher. Joséphine Burchard sagte ihr Praktikum nicht etwa ab, sondern blieb und nahm alle Telefonanrufe entgegen. «Sie schmiss die Praxis.» Alle waren am Rande der Erschöpfung – die Gewitternacht, in der sie nur knapp mit dem Leben davongekommen sind, hat ihre Spuren hinterlassen. «Aber arbeiten ist besser als Nichtstun: Arbeit lenkt ab. Manchmal wäre es gut, wenn ich auch nachts arbeiten könnte.»

Bruno Lötscher macht sich Sorgen um seine Zukunft. «Wir denken immer, dass wir in der Schweiz sehr gut versichert sind und einem alles ersetzt wird.» Doch dem sei nicht so: «Ein Versicherer hat mir gesagt, dass bei solchen Naturkatastrophen ein Drittel bis die Hälfte verloren ist.» Der 52-Jährige hatte mit dem Gedanken an eine Frühpensionierung gespielt. «Jetzt muss ich wohl eher bis 70 arbeiten.»

Grosse Solidarität

Der Zusammenhalt nach der Naturkatastrophe ist in Brienz gross. Viele wollen helfen. Einwohnerinnen und Einwohner logieren Evakuierte in leeren Kinderzimmern, Zweitwohnungsbesitzende stellen ihre Wohnungen zur Verfügung, vor der Tierarztpraxis werden immer wieder Kuchen deponiert, ein Unternehmen spendete dem Tierarzt eine Kaffee­maschine, ein Unternehmen für Tierarztbedarf hat Lötscher Material und Tierarzneimittel geschickt, das er in seinem Haus gelagert hatte und das nun fehlte. Der Hilfsfonds der GST hat Geld überwiesen, der Rechtsdienst ist bei Versicherungsfragen beigestanden. Viele wollen auch mit Geld helfen. Darum ist auf der Webseite der Tierarztpraxis nun ein Spendenkonto für den Wiederaufbau des Eselstalls aufgeschaltet; dieser war nicht versichert.

«Alle Hilfe ist für uns Ermutigung, ein Zeichen der Hoffnung», sagt Bruno Lötscher. «Nichts ist mehr, wie es vor dem Unwetter war. Wir haben nun ein ganz anderes Leben, aber wir kennen es noch nicht.»

Bruno Lötscher vor einem Fenster des zweiten Stocks seines verschütteten Hauses. (© GST)

Unwetter in Brienz

Am Abend des 12. August haben starke Regenfälle oberhalb von Brienz im Kanton Bern den Milibach in einen reissenden Strom verwandelt. Er trat über die Ufer, riss auf seinem Weg alles mit, übergoss Häuser, Strassen und Gärten mit Gesteinsbrocken, Holz und Schlamm und flutete den Bahntunnel. Oberhalb des Dorfes hatte der Geschiebesammler des Milibachs rund 12 000 Kubikmeter Geröll und Felsen aufgehalten, bevor er überlief und weitere 50 000 Kubikmeter Geschiebe die Häuser entlang des Bachs zerstörten. Zwei Personen wurden leicht bis mittelschwer verletzt, 70 Menschen wurden evakuiert.
Am 9. September entschieden die Behörden, dass das stark zerstörte Haus von Tierarzt Bruno Lötscher notabgerissen werden muss.

 
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