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Ein Wildtier gehört in fachkundige Hände
Die aktuelle Revision der Jagdverordnung sieht vor, dass Tierärztinnen und Tierärzte Wildtiere in Not ohne Bewilligung behandeln dürfen. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch das Thema Wildtiere birgt weitere Fragen.
Verheddert sich ein Jungvogel in einem Netz und wird dieser anschliessend in eine Tierarztpraxis gebracht, stellt dies die Tierärztin oder den Tierarzt vor ein Dilemma. Das Naheliegendste wäre, den Vogel aus dem Netz zu befreien, ihn allenfalls noch einige Stunden in der Praxis zu überwachen, und ihn, sofern er gesund und flugfähig ist, wieder freizulassen. Doch Tierärztinnen und Tierärzte werden gemäss der bisher gültigen Gesetzgebung wie Privatpersonen behandelt und dürfen Wildtiere nur mit einer Bewilligung oder Genehmigung des Amtes behandeln. Nicht zu jeder Uhrzeit ist eine solche ohne Weiteres erhältlich.
Die Wildtierspezialistin und Kleintierärztin Ursina Tröndle kennt diese Problematik aus erster Hand. In ihrer Praxis im bernischen Langenthal behandelt sie Klein- und Heimtiere sowie Exoten, doch bringen auch regelmässig Privatpersonen Igel oder Vögel in ihre Praxis. «In den Monaten Mai und Juni, wenn die Jungvögel flügge werden, sind es ein bis zwei Fälle pro Woche», so Tröndle. «Wir haben zum Glück einen guten Kontakt zum Wildhüter und erreichen diesen im Notfall meist problemlos», berichtet die Tierärztin. Sie war bis letztes Jahr im Vorstand der Schweizerischen Vereinigung für Wild-, Zoo- und Heimtiermedizin (SVWZH) und weiss daher, dass dies nicht überall der Fall ist. «Nicht alle Kantone sind gleich gut organisiert. Unter Umständen hat der Kanton keinen Wildhüter oder dieser ist nicht zu jeder Zeit erreichbar.»
Eine bisher fehlende rechtliche Grundlage wird geschaffen
Mit der aktuellen Revision der Jagdverordnung soll nun erstmals ein Passus aufgenommen werden, der es Tierärztinnen und Tierärzten erlaubt, pflegebedürftige Wildtiere ohne Bewilligung einer ersten Behandlung zu unterziehen. Somit wird endlich legalisiert, was Tierärztinnen und Tierärzte wohl in der Not oft bereits machen, um verletzten Tieren zu helfen. «Ich finde es begrüssenswert, dass hierzu erstmals eine nationale Regelung geschaffen werden soll», sagt dazu Ursina Tröndle.
Von März bis Juli dieses Jahres fand die Vernehmlassung zur Revision statt. Wenn der Passus wie vorgesehen vom Bundesrat verabschiedet wird, ist die Regelung ab Februar 2025 gültig. Mit der bewilligungsfreien Behandlung von Wildtieren wäre eine wichtige Forderung erfüllt, welche die SVWZH 2020 in einem Positionspapier zur Pflege von Wildtieren gestellt hatte. Weitere Forderungen betreffen beispielsweise die Qualität von Pflegeeinrichtungen. Wildtierstationen sollten demgemäss durch Tierärztinnen und Tierärzte mit entsprechendem Grundwissen begleitet werden. Wichtig sei zudem, so Tröndle, dass auch ausserhalb der Bürozeiten eine Anlaufstelle bestehe.
Die Finanzierung bleibt ungeklärt
Keine gute Lösung ist laut Ursina Tröndle, wenn Tierärztinnen und Tierärzte Wildtiere über längere Zeit in der Praxis behalten. «Wildtiere gehören in fachkundige Hände und geeignete Einrichtungen». Eine möglichst rasche Übergabe an eine Pflegestation sei wünschenswert. Dort könne besser gewährleistet werden, dass die Tiere die angemessene Pflege und Unterbringung erhielten und sich möglichst nicht an Menschen gewöhnten. Dies ist in einem normalen Praxisalltag mit allenfalls zusätzlich stationären Hunden und Katzen nicht möglich.
Im Gegensatz zu den Haustieren stehe bei den Wildtieren eine andere Medizin im Vordergrund, so Tröndle: «Entscheidend ist immer, ob das Tier innerhalb einer vernünftigen Zeit wieder ausgewildert werden kann.» Sei die Prognose nicht gut, müsse das Tier in der Regel euthanasiert werden. Auch aus diesem Grund begrüsst sie die nun vorgesehene Legalisierung der Erstbehandlung. «Kommt ein Vogel mit einer unheilbaren Verletzung in die Praxis, muss ich den Wildhüter nicht mehr fragen, ob ich das Tier erlösen darf oder nicht.» Für die Erstbehandlung sei meist kein spezifisches Wildtierfachwissen notwendig, es gehe vor allem um das Einschätzen der Chance, das Tier wieder in die Natur entlassen zu können. Für die Entscheidung spielt zudem eine Rolle, ob das Tier einer seltenen Art angehört. Ist dies der Fall, wird eher eine aufwändigere Therapie in Kauf genommen.
So oder so bleibt offen, wer die Behandlung finanziert. Dies ist ein für die Tierärzteschaft weiterhin unbefriedigender Punkt, den die aktuelle Verordnungsrevision nicht klärt. Einige Kantone unterstützen zwar beispielsweise Vogel- und Igelstationen finanziell, doch der allergrösste Teil der tierärztlichen Versorgung von Wildtieren wird unentgeltlich geleistet. «Begrüssenswert wäre, wenn der Bund auch regeln würde, wer finanziell für die Behandlung von Wildtieren aufkommt. An erster Stelle wären hier die Kantone gefragt, beispielsweise könnte aber auch ein nationaler Fonds dafür geschaffen werden», sagt dazu Ursina Tröndle. Dies würde auch ermöglichen, den Tieren in jedem Fall die notwendige medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Tröndle erzählt von einem Igel, der mit einer Schürfung am Bein am Strassenrand lag. «Um eine korrekte Diagnose stellen zu können, hätte ich den Igel unter Narkose untersuchen müssen. Der Wildhüter entschied sich dagegen und hat ihn so wieder mitgenommen».
Je nach Kanton anders
Auch nach der aktuellen Revision der Jagdverordnung bestehen unterschiedliche kantonale Regelungen bezüglich Wildtiere. Dies beginnt bei der zuständigen Behörde, die je nach Kanton und Tierart verschieden sein kann. Die GST hat 2022 in Zusammenarbeit mit den Kantonen eine Liste dieser Anlaufstellen publiziert.
Ein Sonderfall stellt zudem der Igel dar, der bundesrechtlich geschützt ist, für dessen Schutz aber die Kantone zuständig sind. Eine klarere gesetzliche Regelung wäre wünschenswert, denn geschwächte oder verletzte Igel gehören zu den häufigeren Wildtierpatienten, die in Tierarztpraxen gebracht werden. Wenn Tierärztinnen und Tierärzte in einem solchen Fall künftig keine Bewilligung für die Erstversorgung mehr einholen müssen, ist dies somit ein Schritt in die richtige Richtung, es sollten aber weitere folgen.
Ein langer Weg zum Ziel
Die GST und die SVWZH setzen sich bereits seit mehreren Jahren dafür ein, dass sich Tierärztinnen und Tierärzte nicht strafbar machen, wenn sie einem verletzten Wildtier im Notfall sofort helfen.
- 2020 hielt die SVWZH diese Forderung in ihrem Positionspapier zur Pflege von Wildtieren fest. Die GST nahm daraufhin Gespräche mit den zuständigen Fachpersonen im Bundesamt für Umwelt (BAFU) auf. Das Anliegen wurde in die vorgesehene Änderung der Jagdverordnung aufgenommen. Weil das Jagdgesetz in der Volksabstimmung abgelehnt wurde, war die Revision jedoch vom Tisch.
- 2021 beauftragte das Parlament den Bundesrat, die dringlichsten Massnahmen zum Jagdgesetz auf dem Verordnungsweg zu regeln. Dies betraf insbesondere Themen rund um den Wolf. Die GST machte wiederum mit einer Medienmitteilung auf ihr Anliegen aufmerksam.
- 2023 unterstützte Nationalrätin Meret Schneider (Grüne/ZH) das Anliegen der Tierärzteschaft mit einer Motion.
- 2024 eröffnete der Bund eine Vernehmlassung zur Teilrevision der Jagdverordnung, in der die Forderung der Tierärzteschaft endlich enthalten war.
Die Revision der Jagdverordnung sieht folgenden Passus vor:
Art. 6 Abs. 2 dritter Satz
2 …Tierärztinnen und Tierärzte, die pflegebedürftige Tiere einer ersten Behandlung unterziehen, benötigen keine Bewilligung, sofern die Tiere anschliessend einer Pflegestation übergeben, am Fundort wieder freigelassen oder euthanasiert werden.