Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 166, Heft 7,
Juli 2024
 
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 02 Juli 2024  
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Fokus

«Nicht einfach passieren lassen, sondern bewusst einen Entscheid treffen»

Nicole Jegerlehner

Jedes Unternehmen, egal, wie gross oder klein es ist, muss eine Anlaufstelle für sexuelle Belästigung haben. Die GST hat Muster-Reglemente und Merkblätter zur sexuellen Belästigung und zur persönlichen Integrität ausgearbeitet.

«Sexuelle Belästigung ist nicht objektiv wägbar»: Das sagt Bernadette T. Kadishi. Die Psychologin und Mediatorin ist mit ihrem Unternehmen viaDialog Anlaufstelle für Fragen rund um sexuelle Belästigung und persönliche Integrität am Arbeitsplatz. «Ausschlaggebend, ob eine Handlung eine sexuelle Belästigung ist, ist nicht die Absicht dahinter, sondern wie sie bei der betroffenen Person ankommt.»

Als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gilt denn auch jedes Verhalten mit sexuellem Bezug, das von einer Seite unerwünscht ist. Das können anzügliche Bemerkungen, sexistische Witze, Postkarten mit halbnackten Personen darauf, Berührungen, Annäherungsversuche und vieles mehr sein. «Wird der Wille des anderen nicht anerkannt und nicht respektiert, ist dies eine Belästigung – sei es mit Worten oder körperlich», sagt Kadishi. «Dies verletzt die betroffene Person in ihrer Würde.»

«Letztlich geht es darum, beim Anderen auf Grenzen zu achten und Stopps wahrzunehmen», sagt Kadishi. Ist also ein Flirt am Arbeitsplatz nicht mehr erlaubt? «Doch, denn beim Flirt passiert etwas Gegenseitiges, das ist der Unterschied.»

Je einfacher jemand Nein sagen kann, umso klarer ist eine Situation, umso einfacher bemerkt jemand, dass der Spruch oder die Berührung unerwünscht war. Aber nicht alle können Nein sagen. «Je nach der Geschichte einer Person ist das nicht so einfach möglich», sagt Kadishi. Zudem: Was passiert, wenn jemand den Chef zurückweist? Was, wenn jemand eine Kollegin abweist? Gelte ich dann als Spassbremse? «Betroffene können auch mit anderen im Team sprechen und schauen, wie diese die Person empfinden – so sehen sie, ob sie mit dieser Situation alleine sind oder nicht.»

Die Anlaufstellen

Bernadette T. Kadishi empfiehlt bei sexueller Belästigung, dass sich Betroffene mit einer neutralen externen Person besprechen. «Genau dafür sind Ombudsstellen oder Anlaufstellen da.» Jedes Unternehmen, egal wie gross oder klein es ist, muss über eine Anlaufstelle für sexuelle Belästigung verfügen. Diese Anlaufstelle kann intern oder extern sein. «Das ist Teil der Sorgfaltspflicht des Unternehmens gegenüber den Angestellten: Diese müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie so etwas erleben.»

Bei kleineren und mittelgrossen Firmen ist eine externe Anlaufstelle sinnvoll. Im Betrieb selber wäre eine unvoreingenommene Herangehensweise nicht möglich, da sich alle kennen. Wenn sich jemand bei der Anlaufstelle von Bernadette T. Kadishi meldet, hört sie der Person erst einmal zu, «um zu verstehen, was die Person erlebt, wie es ihr geht, was ihr Anliegen ist». Einige wollen nur reden. Andere möchten wissen, wie sie sich besser abgrenzen und ihr «Nein» deutlicher machen können. «Die meisten, die zur Anlaufstelle kommen, möchten Klarheit über ihre Situation erreichen, einen Umgang mit der Situation finden und für sich selber einstehen.»

Klärungsgespräche gibt es nur selten. «Solche Situationen anzusprechen, braucht Mut», sagt Kadishi. Eine interne informelle Untersuchung werde meist nur in sehr grossen Firmen eingeleitet. «Sagt man in einer fünfköpfigen Tierarztpraxis, dass man gemobbt, diskriminiert oder sexuell belästigt wird, hat man kaum Ausweichmöglichkeiten.» Darum möchten die meisten Betroffenen auf der Anlaufstelle herausfinden, was sie selber machen können, um die Situation zu ändern, und was sie bereit sind auszuhalten. Viele Betroffene wechseln ganz einfach die Stelle, noch bevor sie sich an eine Anlaufstelle wenden – weil sie wissen, dass sie sich in diesem Arbeitsumfeld nie wohl fühlen werden. Möchte jedoch jemand das Gespräch mit der beschuldigten Person suchen, so begleitet Bernadette T. Kadishi diesen Prozess, sofern die ratsuchende Person dies wünscht.
Verzichtet die Person auf ein Klärungsgespräch oder eine interne Untersuchung, erfahren die Vorgesetzten nur dann vom Vorfall, wenn die Person dies wünscht. Wenn nicht, werden die Vorgesetzten nicht informiert.

Die persönliche Integrität

Nebst sexueller Belästigung können auch Diskriminierung, Mobbing und Beschimpfungen am Arbeitsplatz die persönliche Integrität verletzen – oder anders gesagt: Alle Verhaltensweisen, die Grenzen verletzen und den Selbstwert schädigen. Die Arbeitgebenden sind verpflichtet, die persönliche Integrität der Angestellten zu schützen. Während bei sexuellen Belästigungen das subjektive Empfinden der Betroffenen entscheidend ist, ist Diskriminierung objektiv feststellbar: Jemand wird beispielsweise aufgrund von Rasse, Alter, religiöser Zugehörigkeit oder einer Behinderung absichtlich in seiner Würde verletzt. Auch Mobbing geschieht absichtlich; hier wird systematisch und über einen längeren Zeitraum hinweg jemand herabgesetzt.

Kadishi ermutigt alle, die sich in ihrer persönlichen Integrität verletzt fühlen, bei einer Anlaufstelle eine Auslegeordnung zu machen: «Damit sie die Dinge nicht einfach passieren lassen, sondern bewusst einen Entscheid treffen können, was ihnen wichtig ist, und wie es weitergeht.» Eine Anlauf- oder Ombudsstelle sei in diesem Sinne ein «wohlwollender, achtsamer Raum, in dem Betroffene sowohl in ihrem Erleben abgeholt als auch bezüglich ihrer Handlungsoptionen professionell beraten und gestärkt werden».

Damit es gar nicht so weit kommt, dass jemand die Anlaufstelle des eigenen Betriebs aufsuchen muss, ist es wichtig, die Unternehmenskultur zu pflegen. Die Chefetage muss klarmachen: «Bei uns wird sexuelle Belästigung oder Diskriminierung nicht toleriert.» Bereits in dem die Leitung über die Anlaufstelle informiert, spricht sie über die persönliche Integrität und leistet Präventionsarbeit. Aber auch das Team hat Einfluss auf die Unternehmenskultur.

Ein gutes Betriebsklima ist auch für die Arbeit im Team wichtig. (© GST)

Musterreglement, Merkblatt und GST-Anlaufstelle

Der Schutz der persönlichen Integrität und vor sexueller Belästigung ist ein wichtiger Teil eines guten Betriebsklimas und des Gesundheitsschutzes. Wer sich nicht wohl fühlt, fehlt häufiger und länger am Arbeitsplatz, kann weniger leisten oder kündet gar. Das Arbeitsklima verschlechtert sich. Dies alles wirkt sich negativ auf die Qualität der Arbeit aus. Die GST bietet seit 2019 ein Musterreglement zur sexuellen Belästigung an und hat nun neu ein Merkblatt sowie ein Musterreglement zum Schutz der persönlichen Integrität am Arbeitsplatz für ihre Mitglieder erarbeitet.
ViaDialog von Bernadette T. Kadishi ist die externe Ombudsstelle der GST für die persönliche Integrität am Arbeitsplatz. Alle Mitarbeitenden der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST), die Mitglieder in den GST-Organen und Arbeitsgruppen sowie die Beauftragten der GST können sich an die Anlaufstelle wenden.

 
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