Fokus
«Ich vermisse meine Heimat, aber ich gehe nicht zurück»
Vor zwei Jahren startete Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Liliia Melnyk flüchtete zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Bruder in die Schweiz. Die ausgebildete Tierärztin arbeitet als TPA am Tierspital Bern.
Als Liliia Melnyk am Morgen des 24. Februar 2022 erwachte, war nichts mehr wie vorher: Russland führte Krieg gegen die Ukraine. Die Tierärztin, die südlich von Kiew in Bila Tserkva aufgewachsen ist, lebte damals in der ukrainischen Hauptstadt. 2019 hatte sie ihr Studium abgeschlossen und arbeitete seither in einer grossen Tierklink. Ab 2021 war sie in der Katzenklink tätig: «Wir hatten ein eigenes Gebäude, waren super ausgerüstet, es lief Musik extra für Katzen, und nirgendwo roch es nach Hund», erzählt Liliia Melnyk begeistert. «Wir trugen das Label ,cat friendly’.»
Doch am 24. Februar konnte Liliia Melnyk nicht mehr in die Klinik gelangen. Sie flüchtete in die Westukraine zu einer Freundin und arbeitete während einigen Wochen in deren Tierarztpraxis.
«Ich wollte nie weg aus der Ukraine», sagt Liliia Melnyk. «Ich habe meine Familie dort, meine Freunde, ich hatte eine super Position in der Klinik und Aussicht auf eine Karriere.» Sie brauchte einen Monat um zu begreifen, dass sie aus der Ukraine weg musste. «Ich hatte dort keine Zukunft mehr.»
Die Eltern blieben zurück
Sie besprach sich mit ihrer Familie. Die Eltern waren immer noch in der Region Kiew und kümmerten sich um die beiden Grossmütter. Der jüngere Bruder war bei den Eltern, die ältere Schwester war ebenfalls innerhalb der Ukraine geflüchtet. «Wir konnten uns nicht treffen, das Reisen war zu gefährlich.» Die Familie entschied, dass die Geschwister flüchten sollten. Die Eltern blieben in der Ukraine: Der Vater durfte das Land nicht verlassen, da er im wehrfähigen Alter war, und die Mutter blieb bei ihm und in der Nähe der Grossmütter.
Dank der Mutter, die als Pflegefachfrau viel Freiwilligenarbeit leistete, hatte die Familie via andere Freiwilligenorganisationen Kontakte in die Schweiz – und so flüchteten die beiden Schwestern mit dem damals 15-jährigen Bruder nach Zürich. Die Grenze zur Slowakei überquerten sie zu Fuss, um nicht tagelang mit einem Auto im Stau festzustecken.
Liliia Melnyk hatte einen Koffer dabei, als sie ihre Heimat verliess. Einige Kleider und die wichtigsten Dokumente waren alles, was sie mitnahm. «Man kann das Leben nicht einpacken», sagt sie. Den Koffer hatte sie bereits zuvor gepackt. «Wir hatten ja schon lange Krieg, seit Russland im Jahr 2014 die Halbinsel Krim besetzt hat», sagt Liliia Melnyk. «Wir wussten, dass der Krieg auch zu uns kommen würde.»
Diplom nicht anerkannt
In der Schweiz kamen die drei Geschwister zuerst bei einer Familie in Langenthal unter. «Wir sind dieser Familie extrem dankbar», sagt Liliia Melnyk. «Sie haben uns aufgenommen wie Verwandte.» Die damals 25-Jährige suchte nach Arbeit – und war nur eine Woche nach ihrer Ankunft in der Schweiz bereits in einer Kleintierarztpraxis tätig. Sie konnte noch kein Deutsch und sprach Englisch mit der Kundschaft. Nach zwei Wochen war aber klar, dass ihre Diplome in der Schweiz nicht anerkannt werden und sie daher nicht als Tierärztin arbeiten kann. «Das war eine grosse Enttäuschung.» Sie musste eine Arbeit als Tiermedizinische Praxisassistentin (TPA) suchen.
«Ich habe Dutzende Kleintierkliniken angeschrieben und eine Stelle als TPA beim Tierspital Bern gefunden», sagt Liliia Melnyk. Zu Beginn arbeitete sie auf allen Abteilungen: «Ich sprang ein, wo sie jemanden brauchten, und lernte so den ganzen Betrieb kennen.» Seit letztem Sommer arbeitet sie nun vor allem in der Radiologie. «Ich bereite die Tiere für den Ultraschall vor und mache die Planung.» Im Vergleich zur Stelle, die sie in der Ukraine hatte, sei die Arbeit nun am Tierspital sehr einfach. «Aber ich liebe das Tierspital, hier sind alle sehr nett zu mir.»
Sehr viele Freundinnen von Liliia Melnyk sind ebenfalls geflüchtet. Sie leben nun auf der ganzen Welt verstreut. «Wir sind schon für ein Wochenende nach Brüssel gereist, nur um Freunde zu treffen.» Was Liliia Melnyk in der Fremde festgestellt hat: «Sobald ich eine Tierärztin oder einen Tierarzt treffe, helfen sie mir, nur weil ich Tierärztin bin – als wären wir eine eigene Nationalität.»
Schwestern als Eltern
Im August 2023 sind die drei Geschwister nach Bern gezogen, in eine eigene Wohnung. Der nun 17-jährige Bruder war in Langenthal in einer Flüchtlingsklasse und absolviert jetzt ein Spezialjahr, bevor er dann an die Berufsschule wechseln will. «Er spricht sehr gut Deutsch», sagt Liliia Melnyk. «Ihm fällt alles so leicht, er hat sich schnell an alles Neue gewöhnt.» Sie und ihre 28-jährige Schwester haben die Elternrolle übernommen. Die Schwester hatte zu Beginn in der Gastronomie gearbeitet und besucht nun einen Deutsch-Intensivkurs, damit sie sich auf bessere Stellen bewerben kann und Aussichten auf einen beruflichen Aufstieg hat. Das Sozialamt unterstützt die Geschwister.
Liliia Melnyk überlegt sich, in der Schweiz ein Masterstudium zu absolvieren, damit ihre Ausbildung auch hier anerkannt wird und sie als Tierärztin arbeiten kann. Dazu muss sie aber besser Deutsch sprechen; sie muss ein B2 vorweisen. Derzeit ist sie auf dem Niveau A2. Sie besucht zwei Mal die Woche einen Sprachkurs. Sie möchte schneller Deutsch lernen. «Aber manchmal ist mir auch einfach alles zu viel – ich musste flüchten, mich in einem neuen Land eingewöhnen, ich arbeite.» Da bleibe keine Energie für einen Intensivkurs. «Man muss geduldig sein mit sich selber», sagt sie dazu.
Sie will in der Schweiz bleiben
Ihr Ziel ist aber klar: Sie will in der Schweiz bleiben und hier als Tierärztin arbeiten. «Ich vermisse meine Heimat und möchte meine Eltern sehen, aber ich gehe nicht zurück.» Auch wenn der Krieg einmal vorbei sein sollte, sieht sie ihre Zukunft nicht in der Ukraine. Sie geht davon aus, dass der Krieg immer wieder ausbrechen könnte. Und vor allem sagt sie: «Ich kann mir nicht vorstellen, noch einmal bei Null zu beginnen.»