Fokus
Weniger Tierversuche dank Forschung an Organoiden
Am Institut für Virologie und Immunologie (IVI) in Bern forscht ein Team unter der Leitung von Marco Alves an Organoiden: An in Labor gezüchteten Gewebestücken, die Organen ähneln und völlig neue Forschungsansätze ermöglichen.
In den Jahren 2008 und 2009 haben Forschende in Japan und in Holland es geschafft, aus Stammzellen dreidimensionale Zellkulturen zu züchten, so genannte Organoide. «Das war eine sehr wichtige Entdeckung, welche die Türe zur weiteren Entwicklung von Organoiden geöffnet hat», sagt Marco Alves. Seit 2017 arbeiten auch er und sein Team am Institut für Virologie und Immunologie (IVI) in Bern mit Organoiden.
Aus Stammzellen züchtet das IVI zum Beispiel Hirn-Organoide, die rund einen halben Zentimeter gross sind. «Hirn-Organoide sind am einfachsten zu generieren», sagt Marco Alves. Denn eine Stammzelle entwickelt sich zu einer Hirnzelle, wenn sie nicht in eine andere Richtung geleitet wird. Die Forschenden am IVI untersuchen an den Organoiden die Auswirkungen von zoonotischen Viren auf den Menschen. «Wir versuchen den Mechanismus zu verstehen, durch den Viren die Fähigkeit erwerben, auf den Menschen zu gelangen», sagt Marco Alves; «unser Ziel ist es, Therapien zu entwickeln». Aktuell arbeitet das IVI unter anderem an Fragen rund um das Zeckenenzephalitis-Virus und das West-Nil-Virus. «Die Erforschung von Infektionskrankheiten erfordert sehr fundierte Kenntnisse und ist multidisziplinär», sagt Marco Alves. Das Team am IVI sei eines der wenigen in der Schweiz, das solchen Fragen nachgehe.
Weniger Tierversuche
Genutzt werden Organoide auch in der personalisierten Medizin: Dank ihnen lassen sich individualisierte Medikamente herstellen. Derzeit wird dies vor allem in der Krebsforschung und bei Mukoviszidose eingesetzt. Krankheiten wie Krebs oder Bluthochdruck können an Organoiden direkter simuliert werden als mit herkömmlichen Methoden.
An Organoiden sind zudem Forschungsarbeiten möglich, die am Tier gar nicht möglich wären. Und dank der Forschung an Organoiden entfallen zahlreiche Tierversuche, beispielsweise bei Untersuchungen von Medikamenten. Sämtliche Tierversuche können Organoide jedoch nicht ersetzen. Denn einige Recherchen sind an den dreidimensionalen Zellkulturen gar nicht möglich: Um beispielsweise Impfungen zu testen, braucht es einen Organismus mit einem Immunsystem. Organoide besitzen jedoch kein Immunsystem. «Oftmals entwickeln wir ein Molekül an den Organoiden, müssen es am Schluss aber noch am Tier testen», sagt Marco Alves. «Unter dem Strich benötigen wir jedoch weniger Tierversuche.»
Organoide in der Veterinärmedizin
Die Forschung an und mit Organoiden entwickelt sich rasch weiter. Heute werden für Menschen und Mäuse – die am besten erforschten Spezien – Organoide für fast alle Organe hergestellt. In der Veterinärmedizin sind Organoide von Schweinen und Hunden am meisten erforscht. «Derzeit ist das Wissen noch ungenügend, um für alle Tiere Organoide aller Organe zu entwickeln», sagt Marco Alves. «Längerfristig ist jedoch in der Veterinärmedizin dasselbe möglich wie in der Humanmedizin – es ist eine Frage der Kosten und des Willens.»
Heute sind Organoide nicht vaskularisiert; daher ist auch ihre Grösse beschränkt. «Die Zellen erhalten nicht genügend Sauerstoff und Nahrung und sterben mit der Zeit ab», sagt Marco Alves. Solange sie keine Blutgefässe entwickeln, kann auch noch nicht an Organspenden durch Organoide gedacht werden.
Neue ethische Fragen
Zwar ersetzt die Forschung an Organoiden Tierversuche. Doch bringen die dreidimensionalen Zellkulturen auch neue ethische Fragen mit sich, vor allem, wenn sie immer weiter entwickelt und komplexer werden. «Was ist der moralische Status eines Hirn-Organoides?» fragt Marco Alves. «Verspüren sie Schmerz? Haben sie ein Bewusstsein?» Je komplexer die Systeme würden, umso dringender sei es, dass die Gesellschaft Antworten darauf finde.
«Auch die Methode der Erforschung ändert sich»
Marco Alves vom Institut für Virologie und Immunologie (IVI) und der Universität Bern forscht seit 2017 mit Organoiden und konzentriert sich dabei vor allem auf die Auswirkungen von zoonotischen Viren auf den Menschen.
Marco Alves, Organoide ähneln Organen, sind jedoch kleiner und weniger komplex. Wieso sind sie trotzdem wichtig für die Forschung?
Im Vergleich zur Forschung mit traditionellen Zellkulturen sind Organoide viel näher an In-Vivo-Studien, also am gesamten Organismus.
Was ist das Schwierigste bei der Herstellung von Organoiden?
Es benötigt viel Wissen und viel Erfahrung. Die Arbeit an den Organoiden im Labor ist die einzige Möglichkeit, dies zu erlernen. Wir haben 2017 begonnen, mit Organoiden zu arbeiten; aber erst vier Jahre später waren wir damit wirklich vertraut. Zudem ändert sich auch die Methode der Erforschung und der Untersuchung. Denn klassische Zellkulturen sind zweidimensional, Organoide jedoch dreidimensional.
Was ist der Schlüssel für die Arbeit mit Organoiden?
Die Kenntnis der Stammzellen: Wir müssen sie daran hindern, sich zu differenzieren und sie später dazu anregen, sich zu einem bestimmten Organ zu entwickeln. Bei dieser Arbeit wird man zum Orchesterdirigenten.
Was bringen Organoide der Veterinärmedizin?
Organoide von Tieren sind noch nicht so weit entwickelt wie in der Humanmedizin. Das Potenzial ist aber gleich gross. Magen und Darm sind in der Veterinärmedizin bisher am besten erforscht; dies auch, weil hier die Organoide am einfachsten zu produzieren sind. Wir wollen in diesem Bereich bald noch mehr erforschen.
Wird man dereinst richtige Organe künstlich herstellen können?
Davon sind wir noch weit entfernt. Bis dahin sind noch sehr viele und sehr komplexe Probleme zu lösen. Heute ist unser Ziel, die Organoide zu erforschen und die Interaktionen zwischen den Zellen zu verstehen.
Sie haben den Forschungspreis für alternative Verfahren der Egon-Naef-Stiftung für In-vitro-Forschung gewonnen. Was machen Sie mit dem Preisgeld von 10 000 Fr?
Die Sichtbarkeit unserer Arbeit durch diese Auszeichnung ist uns wichtig, nicht das Preisgeld – das aber natürlich sehr willkommen ist und in unsere Forschungsprojekte einfliesst. Die Forschung an Organoiden ist sehr teuer.
Interview: Nicole Jegerlehner