Editorial
Von Tieren und Menschen
Wer Tiere liebt und mit ihnen arbeitet, wird immer wieder mit der Frage nach ihrem Nutzen und ihrem Platz in der Gesellschaft konfrontiert. Wie stufe ich das Risiko ein, meine Geflügelherde im Frühjahr ins Freie zu lassen, wenn ein kursierendes Vogelgrippevirus den unmittelbaren Tod des gesamten Bestands zur Folge haben könnte? Wer hat mehr vom Leben: ein Mastochse, der keinen einzigen Tag seines Lebens auf einer Weide verbringt, oder ein Stier, der frei in der Natur der Camargue aufwächst, später aber bei einem Stierkampf qualvoll verendet? Kann man es einer Person verübeln, dass sie sich weigert, ihre Katze im Haus zu halten, obwohl diese positiv auf Leukose diagnostiziert wurde? Die sorgfältige Abwägung zwischen dem Wohlergehen eines Tiers und dem Zwang, den wir ihm auferlegen, ist eine persönliche Gewissensfrage.
Das Thema Tierethik gehört auch zur Weiterbildung, wie sie von der Abteilung für Weiterbildung an der Universität Freiburg seit 2019 angeboten wird. Während die alten Tierschutzgebote das Wohlergehen von Tieren in globalen Prinzipien festhielten wie etwa dem Recht, nicht zu leiden oder dem Recht darauf, sich artengerecht verhalten zu können, argumentieren neue Tierrechtsbewegungen damit, dass jedes Leben zählt, und dass jedes Individuum eine eigene Vergangenheit und somit Eigenheiten hat, die es zu berücksichtigen gilt.
Wir stehen vor einem spannenden, leidenschaftlich vorangetriebenen Paradigmenwechsel. Fragen zum moralischen Status von Tieren ergänzen die Tierschutzgesetzgebung. Dabei liegt es an uns als tiermedizinische Fachpersonen, uns mit den ethischen Aspekten vertraut zu machen, damit wir Auskunft geben und mit Tierbesitzenden in einen Dialog treten können; damit wir auf gesellschaftliche Debatten rund um die Beziehung und die Nutzung von Tieren ausgewogen und fundiert reagieren können.
In enger Zusammenarbeit mit Sarah Prasse von der Geschäftsstelle bezieht die Kommission Tierwohl der GST vermehrt Stellung zu aktuellen Themen im Bereich des Schutzes von Wild-, Versuchs-, Haus- und Nutztieren. In dieser Sonderausgabe möchten wir uns dem Thema Wohlbefinden über verschiedene Aspekte nähern, denen man in der täglichen Praxis begegnet. Pferdefachleute werden etwa dafür sensibilisiert, bei ihrer Kundschaft bedenkliche Ansätze von Anthropomorphismus zu erkennen oder es können in der Kleintierpraxis Massnahmen für einen stressfreieren Umgang mit Nagetieren empfohlen werden, die auf Labortests basieren. Wir hoffen, dass Sie durch die Lektüre unserer Artikel Ihr Wissen und Ihre Arbeitsmethoden erweitern können, und wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen zu dieser Ausgabe.