Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 165, Heft 7_8,
Juli 2023
 
Thema Sonderheft Tierwohl / cahier spécial Bien-être animal  
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 04 Juli 2023  
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Fokus

Vom Therapeuten zum Ethikberater: eine echte Herausforderung für Pferdetierärzte

Pierre-André Poncet, Stéphane Montavon, Charles François Trolliet; Schweizer Rat und ­Observatorium der ­Pferdebranche COFICHEV

Der Schweizer Rat und Observatorium der Pferdebranche möchte, dass die Themen Ethologie und Ethik in der Ausbildung von Tierärzten stärker ­berücksichtigt werden. Der Verein sieht die Tierärzteschaft als Beraterinnen und Berater für das ­Wohlergehen der Tiere.

Traditionell geht es in der Pferdemedizin um die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens in den Bereichen Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten sowie Zucht und Haltung von Equiden. Tierschutz ist auch in den Pflichtmodulen des Studienplans auf Bachelor-Niveau enthalten1. Obwohl sie für ethische Fragen sensibilisiert sind, werden Veterinärtherapeutinnen und -therapeuten hauptsächlich durch die Notwendigkeit motiviert, die Nützlichkeit und Effizienz von Equiden zu erhalten. Daher ist dieser anthropozentrische Ansatz der Krankheitskontrolle in erster Linie auf die Wahrung menschlicher Interessen ausgerichtet.

Ein Paradigmenwechsel

Pferde, einst Nutztiere und Symbole der Männlichkeit, erfüllen heute in unseren Breitengraden meist Freizeit- und Sportfunktionen und haben andere, oft junge, weibliche und urbane Milieus erobert. Gleichzeitig steigen die gesellschaftlichen Anforderungen an das Wohlergehen von Tieren und stellen viele Praktiken in Frage. Kritiker bemängeln vor allem das Leiden der Tiere bei der Nutzung. Dabei stehen sich zwei Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite steht die Verantwortungsethik, die die grosse Mehrheit bildet und auf den Schutz der Tiere abzielt, sich aber nicht gegen ihre Verwendung wendet. Diese pragmatische und vernünftige Denkrichtung akzeptiert die asymmetrische Beziehung zwischen Menschen und Pferden, die sich aus dem irreversiblen Status als Haustier ergibt, der im Laufe der Jahrtausende erworben wurde. Auf der anderen Seite steht die Überzeugungsethik, die die Vorstellung einer Kluft zwischen den Arten ablehnt und sich für Antispeziesismus und die generelle Abschaffung der Nutzung von Tieren einsetzt.

Auf der Grundlage des sich verändernden Sensibilitätsniveaus in der Gesellschaft und der Sozial- und Biowissenschaften, zum Beispiel der Bioethik, verteidigt der Schweizerische Rat und die Beobachtungsstelle für die Pferdebranche COFICHEV das Recht, Equiden zu nutzen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind2. Auf diese Weise unterstützt er das ethische Prinzip der persönlichen Verantwortung für Pferde und der Gegenseitigkeit: Wenn wir viel von ihnen verlangen, müssen wir ihnen auch viel zurückgeben. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aus verschiedenen Disziplinen setzt sich COFICHEV für eine faire Beziehung zwischen Menschen und Pferden ein. Dieser begründete Ansatz untersucht die Interessen beider Seiten, die Intensität und das Ausmass ihrer Bedürfnisse sowie die Art, die Ursachen und die Rechtfertigung von Einschränkungen aus moralischer Sicht. Sie besteht also in einer systematischen Beratung darüber, was man tun sollte, um heute gut und richtig zu handeln. Durch dieses Verständnis entwickelt sie eine Fragestellung und eine Suche nach angemessenen Antworten in einem gegebenen Kontext.

Rahmen durch Gesetze

In seiner Verfassung (Art. 120 BV) respektiert der Bund seit 1992 die Unversehrtheit des Lebendigen und die Sicherheit von Menschen, Tier und Umwelt und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten. Das Tierschutzgesetz (TSchG) präzisiert die Begriffe, die menschliche Wahrnehmungen und Konzepte beschreiben, darunter Würde, Eigenwert (Tierwürde), Zwang, Erniedrigung, tiefe Beeinträchtigung oder Instrumentalisierung. Die Gesetzgebung und die begleitenden Texte garantieren die Würde von Tieren jedoch nicht absolut. Menschen können sie daher Zwängen unterwerfen, die jedoch durch überwiegende Interessen gerechtfertigt sein müssen. Diese Legitimation erfolgt im Rahmen einer Abwägung der Interessen beider Seiten (Tiere und Menschen), bei der unter moralischen Gesichtspunkten geprüft wird, ob und unter welchen Bedingungen eine Belastung gerechtfertigt und wie die Intensität der Belastung minimiert werden kann3.

Die Risiken des Anthropomorphismus

Mit der Verlagerung des Status von Equiden auf den eines Haustieres steigt auch die Bedeutung empathischer Anliegen. Viele Menschen stellen sich vor, dass sie die Gefühle dieser Tiere empfinden; sie verlassen sich auf ihre persönlichen Erfahrungen und lassen ihre eigenen Emotionen die Oberhand gewinnen. Das Wohlbefinden eines Pferdes hängt jedoch in erster Linie von seinen Anpassungsfähigkeiten ab, das heisst davon, wie es die Umgebung, in der es lebt, wahrnimmt und wie es sich daran gewöhnen muss. Der Mensch kann den Wohlbefindens-Zustand eines Equiden nicht auf der Grundlage dessen beurteilen, was er aus menschlicher Sicht für angemessen hält, um ihm gute Lebensbedingungen zu garantieren. Anstatt die Umstände aus der Sicht des Pferdes und seiner Grundbedürfnisse zu betrachten (Bewegung in Freiheit, Raufutter, soziale Interaktion mit Artgenossen, Sicherheit, Unterschlupf, angereicherte und stimulierende Umgebung, konforme körperliche Verfassung, gute Gesundheit ...), setzt er das Tier in seine eigene Lage («mir ist kalt bei 15 Grad und ich ziehe einen Pullover an, also muss ich das Pferd mit einer Decke schützen»). So erweisen sich Mitleidsausbrüche, die ansonsten respektable Emotionen sind, als unangemessen.

Diese Diskrepanz in der Art und Weise, wie der Zustand des Tierwohls beurteilt wird, gehört zu den Schwierigkeiten, die bei der Debatte über die verschiedenen Situationen, die man antreffen kann, überwunden werden müssen. Die Ausbildung von Reitsportlerinnen und Reitsportlern sowie die Unterstützung durch die Tierärzteschaft können diese Probleme lindern, insbesondere indem sie lehren, nicht anstelle des Pferdes zu denken, sondern stattdessen die Tierperspektive zu verstehen.

Auch Tierärzte haben Probleme

Der Beruf des Tierarztes spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung und Verbesserung des Wohlbefindens von Pferden. Das Studien- und Weiterbildungsprogramm ist zweifellos gut konzipiert, um die Grundwerte des Berufs zu vermitteln, die durch verschiedene soziale Qualitäten unterstützt werden – beispielsweise die Kundenorientierung, Reaktionsfähigkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsübernahme, Transparenz. Doch selbst wenn im Unterricht die Tierethik behandelt wird, haben viele Pferdetierärztinnen und -tierärzte später Schwierigkeiten, in der Praxis eine ausführliche und ehrliche Interessenabwägung vorzunehmen. Die grösste Hürde besteht darin, die natürlichen Bedürfnisse von Equiden und die Verletzung ihrer Würde und ihres Wohlbefindens zu bewerten. Andererseits kann ihre Beziehung zu den Pferden, ebenso wie die der Eigentümer, durch die Begriffe «Nutzung», «Kontrolle» und «Unterwerfung» geprägt sein, insbesondere wenn der Wert der Pferde hauptsächlich in Geld ausgedrückt wird.

Durch die Betonung einer humanen Sicht des Wohlbefindens fällt es einigen Tierärztinnen und Tierärzten schwer, Equiden als Subjekte ihrer eigenen Existenz anzuerkennen, die versuchen, intrinsische Bedürfnisse zu befriedigen. Durch die Überbetonung ihrer eigenen Ziele, wie beispielsweise die Beseitigung von Schmerzen, verkennen dieselben Tierärzte die Perspektive des Tieres, kurz gesagt, die Art und Weise, wie es seine Umwelt wahrnimmt. Während der Behandlung erkennen sie Verhaltensweisen, die auf Unbehagen oder Schmerzen hindeuten, nicht immer richtig. Dies führt beispielsweise dazu, dass sie nicht in der Lage sind, angemessene Ratschläge zu erteilen, oder dass sie den richtigen Zeitpunkt für die Tötung hinauszögern. Offensichtlich haben einige Pferdetierärzte die praktische Tragweite der schrittweisen Ausweitung des Anthropozentrismus auf einen biozentrischen Ansatz, der den Equiden einen zu respektierenden Eigenwert zuerkennt, noch nicht erkannt.

Eine Herausforderung für die Pferdemedizin

In jüngster Zeit gibt es mehrere Anzeichen dafür, dass die Nachhaltigkeit der Pferdebranche davon abhängt, wie die Bevölkerung das Wohlergehen der Equiden wahrnimmt, insbesondere wenn Aktivitäten oder Disziplinen unter Beschuss geraten. Heute sind nur Ethologinnen und Ethologen sowie die wenigen Tierärztinnen und Tierärzte, die solide Kompetenzen in der Pferdeethologie entwickelt haben, in der Lage, ihr Fachwissen im Bereich der Beratung und Ethik einzubringen, insbesondere bei einer Interessenabwägung. In Zukunft wird die tägliche Praxis jedoch von Therapeutinnen und Therapeuten (Tierärzten, Osteopathen, Physiotherapeuten...) und anderen Akteuren der Pferdebranche die persönliche Verantwortung verlangen, entscheidende Konzepte wie Würde, Wohlbefinden, gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Einschränkungen zu beherrschen. Dieses Wissen wird ihnen helfen, ethische Grundsätze zu berücksichtigen und ihre Aufmerksamkeit auf eine harmonische, interspezifische Beziehung zu richten, die die Bedürfnisse von Equiden und Menschen einschliesst.

Die wichtigsten Themen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das zu entwickelnde Wissen dazu dient, Prozesse zu beherrschen, die zu ungerechtfertigten Belastungen führen, welche die Würde der Equiden verletzen und ihr Wohlbefinden beeinträchtigen (Schmerzen, Leiden, Schäden, Angst, Entwürdigung, tiefgreifende Veränderungen der Fähigkeiten oder des Phänotyps, übermässige Instrumentalisierung), reduzieren oder vermeiden. Dies erfordert ein objektives Verständnis der biologischen, körperlichen, biomechanischen, verhaltensbezogenen und adaptiven Funktionen und Fähigkeiten der Pferdearten.

Im Schweizer Tierschutzgesetz (TSchG) wird das Wohlbefinden charakterisiert: Es ist ein Zustand, in dem ein Individuum keine negativen Empfindungen und keine dauerhafte Unbefriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse empfindet. Genauer gesagt: Die Bedingungen seiner Haltung und Ernährung stören seine Körperfunktionen und Verhaltensweisen nicht. Sie stellen auch keine übermässigen Anforderungen an seine Anpassungsfähigkeit. So behält der Equide innerhalb der Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit die Möglichkeit, sich in Übereinstimmung mit dem Ethogramm seiner Art zu verhalten4.

Sie bleiben klinisch gesund und die Menschen ersparen ihnen ungerechtfertigte und unnötige Belastungen. Darüber hinaus besteht die angemessene Haltung darin, Equiden als fühlende Wesen zu betrachten, die sich ihrer Umwelt bewusst sind und in der Lage sind, Schmerzen und Emotionen (Freude, Vergnügen, Angst und Schmerz) zu empfinden. Die Beurteilung des Tierschutzes beruht auf einer pluralistischen und interdisziplinären Sichtweise: positive Emotionen, gute physische und psychische Gesundheit, korrekte biologische Funktion und artgerechtes Verhalten. Sie geht daher weit über das allgemeine Tierschutzkonzept hinaus: gute klinische Gesundheit und angemessene Versorgung (ausreichende Ernährung, angemessene Unterbringung, keine Misshandlung).

Jüngste wissenschaftliche Fortschritte

Eine Reihe neuerer wissenschaftlicher Arbeiten befasst sich mit der Identifizierung von Zwängen und Praktiken, die das Wohlbefinden oder die Würde von Equiden beeinträchtigen. Dieser Korpus bildet die Grundlage für die Analyse einiger ethischer Fragen. Der Schweizerische Branchenrat und die Schweizerische Beobachtungsstelle für die Pferdebranche haben in ihren «Ethischen Überlegungen zur Würde und zum Wohlergehen von Pferden und anderen Equiden – Wege zu einem besseren Schutz»2 eine Vielzahl von ethischen Überlegungen aufgelistet. Diese Arbeiten berühren die Bereiche Ethologie, Medizin und Biologie, Tierzucht, Reitsportwissenschaften sowie Geistes- und Sozialwissenschaften.

Diese Kenntnisse und Überlegungen sind unerlässlich, um die Interessenabwägungen vorzunehmen, die jede Interaktion zwischen Menschen und Pferd begleiten müssen, um zu entscheiden, ob eine Belastung akzeptabel ist, ob man versuchen sollte, sie durch Änderungen der Handlungsweise zu reduzieren, oder ob sie als unannehmbar betrachtet werden muss.

Schlussfolgerungen

Was COFICHEV heute hinterfragt, ist die Frage, wie bestimmte Personen, die sozial oder beruflich glaubwürdig sind, falsche ethische Ansichten vertreten können, indem sie ausgezeichnete Gründe vorbringen (die Gewährleistung des Tierschutzes, zum Beispiel durch den Missbrauch von entzündungshemmenden Medikamenten oder anderen Techniken, oder die Einschränkung der freien Bewegung unter dem Vorwand des Verletzungsrisikos). Solche Fehlvorstellungen können aus der inhärenten Komplexität der beobachteten Situationen, dem Gewicht der Tradition oder einer unvollkommenen Beherrschung wissenschaftlicher Erkenntnisse resultieren, die dazu führen, dass bestimmte Verhaltensmerkmale über- oder unterschätzt oder falsch interpretiert werden.

Die erste Massnahme, die COFICHEV vorschlägt, besteht darin, die Aus- und Weiterbildung von Tierärztinnen und Tierärzten, die regelmässig mit Equiden zu tun haben, zu erweitern. Das Ziel würde ein zeitgemässes Konzept des Wohlbefindens umfassen, das sich auf eine echte ethische Berücksichtigung der intrinsischen Bedürfnisse von Equiden konzentriert. Zu diesem Zweck könnte der Anteil der Tierethik in der Erstausbildung erhöht werden, und die Berufsverbände sollten ihr Fortbildungsangebot um einen Kurszyklus ergänzen, der sich auf die oben genannten Themen konzentriert.

Schliesslich unterstützt COFICHEV im Hinblick auf die Herausforderungen einer im Übergang befindlichen und oftmals verwirrten Pferdekultur auch die Ansicht, dass die Forschung die Bedeutung von Projekten in den Bereichen Ethologie, Pferde- und Sozialwissenschaften erhöhen sollte. Dafür ist eine enge Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren der Pferdebranche unerlässlich.

Schliesslich ist eine breite Weitergabe dieses Wissens unerlässlich, und die Tierärzteschaft kann durch ihre eigene berufliche Tätigkeit einen entscheidenden Beitrag dazu leisten.

Referenzen

  1. Vetsuisse-Fakultät, Studienplan für die Bachelor- und Masterstudiengänge an der Vetsuisse-Fakultät vom 26. November 2020 (Stand 1. August 2021). Bern, CH. https://www.unibe.ch/e152701/e154048/e191232/e205433/e1045714/vetsuisse_sp_ba_ma_final_ger.pdf (abgerufen am 18.07.2022)
  2. Poncet PA, Bachmann I, Burkhardt R, Ehrbar B, Herrmann R, Friedli K, Leuenberger H, Lüth A, Montavon S, Pfammatter M, Trolliet CF: Ethical reflection on the dignity and welfare of horses and other equides - Pathways for a better protection. Schweizerischer Rat und Observatorium für die Pferdebranche, Bern, CH, https://www.cofichev.ch/Htdocs/Files/v/6129.pdf/Publications-cofichev/COFiCHEV_Ethique_F_2022_DEF_202205030.pdf (abgerufen am 18.07.2022)
  3. SALV - Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, BAFU - Bundesamt für Umwelt: Würde des Tieres – Interessenabwägung: Erläuterungen. Bern CH, 2017, https://www.blv.admin.ch/dam/blv/fr/dokumente/tiere/publikationen-und-forschung/tierversuche/gueterabwaegung-erlaeuterungen.pdf.download.pdf/gueterabwaegung-erlaeuterungen-fr.pdf (abgerufen am 20.04.2018)
  4. Dyson S. and Pollard D. Application of a Ridden Horse Pain Ethogram and Its Relationship with Gait in a Convenience Sample of 60 Riding Horses. https://www.mdpi.com/2076-2615/10/6/1044 (abgerufen am 17.09.2022)

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