Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 165, Heft 7_8,
Juli 2023
 
Thema Sonderheft Tierwohl / cahier spécial Bien-être animal  
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 04 Juli 2023  
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Rechtlicher Schutz der Tierwürde

Gieri Bolliger und Andreas Rüttimann; Stiftung für das Tier im Recht (TIR)

Der Schutz der Tierwürde ist ein Grundprinzip des Schweizer Tierschutzrechts. Er beruht auf der Überzeugung, dass Tiere einen Eigenwert und Selbstzweck haben und nicht nur Mittel für menschliche Zwecke sind.
Dementsprechend werden Tiere etwa auch vor Erniedrigung oder übermässiger Instrumentalisierung geschützt.

Der Schutz der Würde der Kreatur – der auch den Schutz der Tierwürde umfasst – ist seit 1992 in der Schweizer Bundesverfassung (BV) verankert (heute: Art. 120 Abs. 2 BV). Das ist weltweit immer noch einzigartig. Der Schutz der Würde wird dort zwar nur im Zusammenhang mit dem Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen explizit erwähnt. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass es sich beim Schutz der kreatürlichen Würde um ein allgemeines Verfassungsprinzip handelt, das in der gesamten Rechtsordnung Gültigkeit hat. Gerichte und Behörden sind somit verpflichtet, der Tierwürde in der ganzen Rechtsordnung und in jedem Rechtsanwendungsverfahren, das die Mensch-Tier-Beziehung betrifft, Rechnung zu tragen. 2008 ist der Schutz der Tierwürde folgerichtig auch in das Tierschutzgesetz (TSchG) aufgenommen und weiter konkretisiert worden. Seither bildet er eine der tragenden Säulen des Tierschutzrechts.

Die artgemässe Selbstentfaltung

Der Anspruch auf Achtung ihrer Würde kommt Tieren aufgrund ihres Eigenwerts zu. Dessen Anerkennung verlangt, dass Tiere nicht im Interesse des Menschen, sondern vielmehr um ihrer selbst willen in ihren artspezifischen Eigenschaften, Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu achten sind. Dies geht weit über das Verbot des ungerechtfertigten Zufügens physischer und psychischer Schäden hinaus und umfasst auch den Schutz von Tieren vor menschlichen Eingriffen in ihre artgemässe Selbstentfaltung. Als Beispiele für Beeinträchtigungen der Tierwürde nennt das Tierschutzgesetz dementsprechend neben «klassischen» Belastungen wie der Zufügung von Schmerzen oder Leiden auch die Erniedrigung und die übermässige Instrumentalisierung von Tieren sowie tiefgreifende Eingriffe in ihr Erscheinungsbild oder ihre Fähigkeiten (Art. 3 lit. a TSchG).

Belastungen ohne Schmerz und Leiden

Als Erniedrigung wird gemeinhin ein herabwürdigendes Verhalten bezeichnet, das sich beispielsweise im Lächerlichmachen oder Vermenschlichen von Tieren manifestieren kann. Zu denken ist dabei etwa an das Vorführen von Tieren in Kostümen, das Einfärben ihres Fells oder Gefieders, das Frisieren von Tieren in unnatürlicher Weise oder das Präsentieren von Kunststücken mit Tieren, die nicht deren natürlichem Verhalten entsprechen.

Unter Instrumentalisierung wird im Allgemeinen die Behandlung anderer als Mittel zu bestimmten Zwecken verstanden. Folglich geht mit jeder Nutzung von Tieren eine gewisse Instrumentalisierung einher – dies gilt selbst für eine vorbildlichen Heimtierhaltung, da diese stets auch mit der Befriedigung gewisser emotionaler Bedürfnisse verbunden ist. Übermässig und somit würderelevant ist eine Instrumentalisierung dann, wenn ein Tier vorwiegend als Instrument in der Hand des Menschen genutzt wird und sein Eigenwert beziehungsweise sein Selbstzweck dabei in den Hintergrund tritt. Typische Beispiele hierfür sind die Intensivhaltung landwirtschaftlicher Nutztiere oder belastende Tierversuche.

Tiefgreifende Eingriffe in die Fähigkeiten von Tieren liegen etwa bei gewissen extremen Auswüchsen in der Tierzucht vor, beispielsweise wenn Katzen infolge zuchtbedingter Verkümmerung der Tasthaare in ihrer Orientierungsfähigkeit eingeschränkt sind oder Hunde aufgrund ihrer Schädelform Atemschwierigkeiten haben. Unter tiefgreifende Eingriffe ins Erscheinungsbild können etwa die Injektion von Farbstoffen in Fische («Glowfish») oder andere Tiere oder die Implantierung von Kopfhalterungen oder Ähnlichem im Rahmen von Tierversuchen fallen.

Würdeschutz gilt nicht absolut

Der Schutz der Tierwürde gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Eine Beeinträchtigung der tierlichen Würde ist aus rechtlicher Sicht gerechtfertigt, wenn sie notwendig ist, um überwiegende Interessen zu wahren. Als solche kommen insbesondere die Sicherstellung einer ausreichenden Ernährungsgrundlage, die Gesundheit von Mensch und Tier, der Schutz der Umwelt oder wissenschaftliche Motive infrage. Ob eine Belastung eines Tieres gerechtfertigt ist, muss jeweils im konkreten Einzelfall aufgrund einer Güterabwägung zwischen den sich entgegenstehenden Interessen beurteilt werden. Dabei wird die Schwere der Würdebeeinträchtigung dem angestrebten Nutzen gegenübergestellt. Ein Eingriff in die Tierwürde ist dabei umso strenger zu bewerten, je schwerwiegender er für das betroffene Tier und je belangloser er für den Menschen ist.

Missachtung der Tierwürde ist strafbar

Können bei einer Handlung, mit der die Tierwürde beeinträchtigt wird, keine überwiegenden Interessen seitens des Menschen geltend gemacht werden, liegt eine strafbare Tierwürdemissachtung vor. Die Tierschutzgesetzgebung enthält zudem ausführliche Kataloge mit per se würdemissachtenden und somit ausdrücklich verbotenen Handlungen, zu denen etwa die Misshandlung, die qualvolle Tötung oder die Vornahme sexuell motivierter Handlungen mit Tieren zählen. Bei diesen Verhaltensweisen wurde die Güterabwägung also bereits vom Gesetz- beziehungsweise vom Verordnungsgeber vorweggenommen. Die Missachtung der Tierwürde stellt eine Tierquälerei im Sinne des Tierschutzgesetzes dar und wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren beziehungsweise mit Geldstrafe geahndet (Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG).

Ungenügende Umsetzung

Obwohl der Schutz der Tierwürde bereits seit über 30 Jahren in der Bundesverfassung und seit 15 Jahren auch im Tierschutzgesetz verankert ist, hat sich in der Praxis bislang noch kein grundlegender Wandel in der Mensch-Tier-Beziehung eingestellt. Nach wie vor lässt die Tierschutzgesetzgebung zahlreiche Verhaltensweisen und Formen des Umgangs mit Tieren zu, die mit dem Grundgedanken des Würdeschutzprinzips kaum zu vereinbaren sind. Zu denken ist dabei etwa an das routinemässige Amputieren oder Beschneiden von Körperteilen im Rahmen der Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere wie beispielsweise das Enthornen von Kühen und Ziegen oder das Kürzen der Schnäbel bei Hennen, an das Vergasen von männlichen Küken als «Produktionsabfall» in der Eierindustrie, an die Tötung von Tieren ohne das Vorliegen besonderer Gründe, an die Durchführung schwerstbelastender Tierversuche oder an das Vorführen von Wildtieren in Zirkussen zur blossen Unterhaltung des Publikums. Da­rüber hinaus schrecken auch die rechtsanwendenden Behörden nach wie vor weitestgehend davor zurück, würdemiss­achtende Verhaltensweisen, die für die Tiere nicht notwendigerweise mit Schmerzen, Leiden, Schäden oder Ängsten verbunden sind, zu sanktionieren.

Dem Verfassungsauftrag, die Tierwürde zu schützen, wird nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn das Tierschutzgesetz zwar ein entsprechendes Bekenntnis enthält, zahlreiche Bestimmungen des Tierschutzrechts diesem aber diametral zuwiderlaufen. Der Gesetz- und der Verordnungsgeber wie auch die rechtsanwendenden Behörden stehen in der Pflicht, dem Schutz der Tierwürde durch griffige Rechtsvorschriften und deren konsequente Umsetzung Nachachtung zu verschaffen und so dazu beizutragen, dass den Tieren tatsächlich jener Respekt entgegengebracht wird, der ihnen von Rechts wegen zusteht.

Obwohl die Praktik mit dem Grundsatz des Tierwürdeschutzes nicht vereinbar ist, gilt das systematische Enthornen von Rindern nach wie vor als zulässig. (© Fotolia)

Referenzen

  • Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).
  • Vgl. Errass Christoph, Kommentar zu Art. 80 BV, in: Ehrenzeller Bernhard/Mastronardi Philippe/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung: Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014 1612–1625, N 10; BGE (Bundesgerichtsentscheid) 135 II 384 E. 3.1.
  • Michel Margot, Die Würde der Kreatur und die Würde des Tieres im schweizerischen Recht – Eine Standortbestimmung anlässlich der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, Natur und Recht (NuR) 34 (2012) 102–109, 107.
  • Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 2005 (TSchG; SR 455).
  • Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausser­humanbereich (EKAH)/Eidgenössische Kommission für Tierversuche (EKTV), Die Würde des Tieres, Bern 2001, 6; Errass (Fn 2) N 9.
  • Bolliger Gieri, Animal Dignity Protection in Swiss Law – Status Quo and Future Perspectives, Schriften zum Tier im Recht, Band 15, ­Zürich/Basel/Genf 2016, 46.
  • Richner Michelle, Heimtierhaltung aus tierschutzstrafrechtlicher Sicht, Schriften zum Tier im Recht, Band 12, Zürich/Basel/Genf 2014, 58.
  • Gerritsen Vanessa, Güterabwägung im Tierversuchsbewilligungsverfahren, Schriften zum Tier im Recht, Band 23, Zürich/Basel/Genf 2022, 443 ff.; Bolliger Gieri/Rüttimann Andreas, Rechtlicher Schutz der Tierwürde – Status quo und Zukunftsperspektiven, in: Ammann Christoph/Christensen Birgit/Engi Lorenz/Michel Margot, Würde der Kreatur, Ethische und rechtliche Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Zürich/Basel/Genf 2015 65–92, 70.
  • Bolliger Gieri/Richner Michelle/Rüttimann Andreas/Stohner Nils, Schweizer Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis, Schriften zum Tier im Recht, Band 1, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2019, 60 f.­ mit weiteren Beispielen.
  • Vgl. Art. 8 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Gentechnik im ­Ausserhumanbereich vom 21. März 2003 (Gentechnikgesetz [GTG]; SR 814.91).
  • EKAH/EKTV (Fn 5) 8.
  • Siehe Art. 26 TSchG und Art. 16 ff. der Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 (TSchV; SR 455.1).
  • Zum Ganzen siehe ausführlich Bolliger/Rüttimann (Fn 8) 77 ff.; ­Gerritsen (Fn 8) 120 ff.; Engi Lorenz, Was verbietet die Würde der Kreatur? Zu den praktischen Konsequenzen der Verfassungsnorm, Zürich/Basel/Genf 2015, 79.
  • Siehe auch Bolliger/Richner/Rüttimann/Stohner (Fn 9) 63 f.
 
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