Journal Schweiz Arch Tierheilkd  
Verlag GST  
Heft Band 165, Heft 7,
Juli 2023
 
Thema Sonderheft Tierwohl / cahier spécial Bien-être animal  
ISSN (print) 0036-7281  
ISSN (online) 1664-2848  
online seit 04 Juli 2023  
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Fokus

Mutter-Kalb-Haltung in der Milchproduktion: ein neuer Ansatz im Sinne von Kuh und Kalb

Cornelia Buchli, Leiterin Fachstelle MuKa

Die frühe Trennung von Kalb und Muttertier ist in der Milchproduktion gängige Praxis. Informierte Konsumentinnen und Konsumenten lehnen diese Haltungsform aus Gründen des Tierwohls ab. Ist die Mutter-Kalb-Beziehung überhaupt mit einer Milchproduktion vereinbar? Ein Einblick in die muttergebundene Kälberaufzucht.

Das sogenannte Mutter-Kind-Verhalten stellt einen Funktionskreis des Verhaltens eines jeden Säugetiers dar, so auch der Kuh. In den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt wird eine spezifische Bindung zwischen der Kuh und ihrem Kalb aufgebaut und intensiviert. Die beiden erkennen sich gegenseitig innert kürzester Zeit – olfaktorisch, akustisch und mit der Zeit auch optisch (Reinhardt, 1980; Sambraus et al., 1978). Das Ausleben der Beziehung zwischen Muttertier und Jungtier stellt einen Bestandteil des arttypischen Verhaltensrepertoires eines Rindes dar. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der Kontakt zu Kühen positiv auf das Verhalten der Kälber auswirkt, indem diese früh lernen, sich sozial kompetent gegenüber Artgenossen zu verhalten und zum Teil reduzierte Stressreaktionen zeigen (Buchli et al., 2017; Meagher et al., 2019). Saugen Kälber an ihren Müttern, treten zudem kaum mehr Verhaltensstörungen wie das gegenseitige Besaugen auf (Fröberg et al., 2008; Roth et al., 2009).

Gesellschaftliche Vorstellungen

Viele Menschen sind sich der frühen Trennung der Milchkuh von ihrem Kalb nicht bewusst. Konfrontiert man sie mit dieser gängigen Praxis, wird die Trennung grösstenteils abgelehnt (Placzek et al., 2021). Aus einer Befragung der amerikanisch-kanadischen Bevölkerung ging hervor, dass eine frühe Trennung als ein Verstoss gegen den Pflegestandard erachtet wird, welchen wir unseren Kühen und Kälbern schulden würden (Sirovica et al., 2022). Doch in wie fern ist diese Perspektive relevant? Grundsätzlich gilt: Landwirtinnen, Agronomen und Tierärztinnen sind Experten, wenn es um landwirtschaftliche Tierhaltung geht, Verbraucher sind es nicht. Gleichwohl sind sie die Empfänger der tierischen Produkte. Die Landwirtschaft gilt aber nicht nur als ein Ort der Nahrungsmittel-Produktion, sondern ist auch als ein Ort zu verstehen, an dem wir als Gesellschaft gemeinsam bedeutsame Werte realisieren (Dürnberger, 2020).

Die landwirtschaftliche Praxis

Seit einer Verordnungsanpassung (VLtH, 2016) im Juli 2020 ist es auch in der Schweiz möglich, Milch von Kühen, die ihre Kälber säugen, in den Lebensmittelkanal abzuliefern. Die rechtliche Grundlage für die muttergebundene Kälberaufzucht, auch Mutter-Kalb-Haltung genannt, war damit geschaffen. Einen neuen Ansatz zu verfolgen, bringt jedoch auch zahlreiche Fragen zur Umsetzung mit sich. Die effektiven Umsetzungsformen einer muttergebundenen Milchproduktion variieren stark. Nebst den vielen generellen betriebsspezifischen Faktoren wie beispielsweise Herdengrösse, Melksystem und Aufstallungsform unterscheiden sich die Varianten im Wesentlichen in Bezug auf die tägliche Kontaktdauer zwischen Kuh und Kalb (Vollkontakt oder Teilzeitkontakt), die Melkfrequenz der Kühe (ein- oder zweimal täglich) und den Initiator des Kontakts (Mensch, Kalb oder Kuh).

Da Ställe bis anhin nicht für Milchkühe mit Kälberkontakt konzipiert wurden, kommt man bei einer Umstellung auf Mutter-Kalb-Haltung nicht um bauliche Anpassungen herum, wobei die baulichen Gegebenheiten in und um den Stall den individuellen Rahmen abstecken. So ist zum Beispiel auch in einem Anbindestall der Kontakt zwischen Kühen und ihren Kälbern möglich, jedoch muss sich der direkte Kontakt zwischen Kälbern und angebunden gehaltenen Kühen auf die Saugzeiten beschränken oder im Auslauf erfolgen (vgl. Art. 40 Abs. 3 TSchV). In allen Formen der Mutter-Kalb-Haltung ist die ablieferbare Milchmenge im Vergleich zur getrennten Haltungsform reduziert und der Platzbedarf für die Kälber ist erhöht. Der Arbeitsaufwand für das Kälbertränken entfällt, dafür muss mehr Zeit in die Tierbeobachtung investiert werden.

Der tierärztliche Blick

Mit der Varianten-Vielfalt der muttergebundenen Kälberaufzucht einhergehend, stellen sich in der Praxis verschiedene Stolpersteine und Fehlerquellen. Die fälschliche Annahme, bei der Mutter-Kalb-Haltung handle es sich um einen Selbstläufer, birgt Risiken für Kälber und Kühe. Zwar wird in der Literatur beschrieben, dass die Aufnahme von Kolostrum und Milch direkt über das mütterliche Euter Vorteile für die Antikörper-Absorption mit sich bringt (Selman et al., 1971). Eine Garantie, dass jedes Kalb rechtzeitig nach der Geburt am Euter seiner Mutter genügend qualitativ ausreichendes Kolostrum aufgenommen hat, gibt es hingegen nicht (Beam et al., 2009). Darum sollte in jedem Fall die Kolostrumaufnahme des Kalbes überwacht und in den ersten Tagen über die Flasche ergänzt werden. Auch die Abkalbe-Bedingungen sind entscheidend: mit einer sauberen, grosszügig eingestreuten Abkalbebucht mit genügend Platz für die Kuh und ihr Kalb werden erste Weichen für ein sich gesund entwickelndes Kalb gestellt – gerade weil das Kalb länger an diesem Ort verbleibt als in der Kälberhaltung ohne Mutterkontakt. Auch bei der Kuh, welche sich üblicherweise mit viel Hingabe um ihre Nachzucht kümmert, sollte während den ersten Tagen post partum die Futteraufnahme kontrolliert werden, damit sie – als Milchkuh – nicht in ein Energiedefizit fällt. Am besten wird das Futter für die Kuh so nah wie möglich beim Kalb angeboten.

Kontaktphase: Mindestens 12 Wochen

In Bezug auf die Kälbergesundheit zeigt sich anhand der wissenschaftlichen Datenlage zu Kälbern mit Kuhkontakt aktuell kein klares Bild. Zu viele Faktoren beeinflussen die Kälbergesundheit und zu stark unterscheiden sich die verschiedenen Formen des Kontakts zwischen Kühen und Kälbern. Bei Befragungen von Landwirtinnen und  Landwirten, in Erfahrungsberichten und bei praktischen Arbeiten überwiegt jedoch das Bild von gesünderen, vitaleren Kälbern im Vergleich zur Kälberhaltung ohne Mutter- beziehungsweise Kuhkontakt (Eriksson et al., 2022; Kohler, 2019; Neave et al., 2022). Der Kontakt zum Muttertier hat zudem eine positive Auswirkung auf die Gewichtszunahmen der Kälber (Roth et al., 2009).

Aufgrund der Entwicklung der Immunität eines jeden Kalbes wird aus veterinärmedizinischer Sicht eine Entwöhnung von der Mutter frühestens ab der 12. Lebenswoche empfohlen. Ab diesem Zeitpunkt ist die Immunitätslücke überwunden und die aktive Immunität konnte in der gewohnten Umgebung aufgebaut werden. Eine frühere Trennung würde das Immunsystem während dieser anfälligen Phase eines Kälberlebens zusätzlich schwächen. Die Entwöhnung sollte zudem graduell und nicht abrupt erfolgen.

Positiv für Eutergesundheit

Was die Eutergesundheit der Kühe betrifft, zeigt sich eher ein positiver Effekt des Säugens (Beaver et al., 2019). Säugende Kühe zu melken funktioniert grundsätzlich, wenn auch eine eingeschränkte Alveolarmilchejektion im Melkstand während der Säugephase auftreten kann (Barth, 2020). Die genauen Ursachen dafür sind noch ungeklärt. Der Fettgehalt in der gemolkenen Milch von säugenden Kühen kann reduziert und der Proteingehalt etwas erhöht sein, aber entgegen der weit verbreiteten Meinung wirkt sich das Säugen nicht negativ auf die Milchqualität oder die Zellzahlen aus (Barth, 2020; Zipp et al., 2018). Es gibt zudem keine Evidenz dafür, dass die frühe Trennung von der Kuh und ihrem Kalb förderlich wäre für die Gesundheit von Kuh und Kalb (Beaver et al., 2019).

Ausblick

Diverse Faktoren können über Erfolg und Misserfolg bei der Umsetzung einer muttergebundenen Milchproduktion entscheiden. Das Management bildet wie bei vielen Haltungsformen, doch hier ganz besonders, die entscheidende Grundlage für eine gut funktionierende Mutter-Kalb-Haltung. Bestandestierärztinnen und -tierärzte können Tierhaltende, die auf diese Produktionsform umstellen, beratend unterstützen und sie auf potenzielle Stolpersteine hinweisen. Für eine Milchproduktion, die mit einem hohen Tierwohl einhergehen soll, ist eine vorausschauende, gute Zusammenarbeit zwischen Tierärztinnen und Landwirten unerlässlich.

Schweizer Milchkühe mit ihren Kälbern auf der Weide.

Referenzen

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